Andreas Weiland
Schreiben under influence
Versuch einer Reflexion der Bedingungen
und Aufgaben des Schreibens über Filme kritischer Filmmacher
Wie schreibt man über einen
Film wie 'Klassenverhältnisse' - den 1983 entstandenen, 1984 uraufgeführten
Film von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub?
Das Wichtigste, vielleicht, vorab:
Indem man ihn im Kino sieht. Im Kino, nicht im Fernsehen, zum festgesetzten
Sendetermin. Auch nicht, dank DVD, zuhause, wieder als "Fernsehfilm" -
digitalisiertes Abbild des Films. Ich werde darauf gleich noch einmal zu
sprechen kommen.
Zweitens: Indem man sich öffnet,
genau hin schaut, versucht, das zu vollbringen: die Einheit von Fühlen
und Denken.
Schließlich: Indem man infragestellt
- in seiner Weise zu denken, in seiner Schreibpraxis -, was die schlechteste
Variante vermeintlicher Filmkritik ausmacht: die Wiedergabe einer "story",
als sei filmische Entwicklung gleichbedeutend mit reduzierendster, ja reduktionistisch
vom Konkreten absehender Erzählung eines vermeintlichen "Inhalts".
Eines "Inhalts", den, in dieser
naiven Form, nur erkennt, wer nicht hinschaut, nicht "sieht". War es nicht
Sklovskij, der uns warnte vor dem Automatismus, einbeschrieben solchem,
nicht
sehen könnenden "Erkennen"? Andererseits, wenn die Verabsolutierung,
nein das ungerechtfertigte, durch den konkreten Reichtum eines Films, der
diesen Namen verdient, ad absurdum geführte "Herausschälen der
platten story" verworfen werden muß, ist dann der Formalismus eines
"Filmfritzen", der nur noch redet von einem spezifischen Code und seinen
Mitteln, um dem Bezug des Werks zur außerfilmischen Wirklichkeit
auszuweichen, nicht gleichfalls zu meiden? "Du bist also auch so ein
Filmfritze", das sagte, enttäuscht, in Würzburg, Jean-Marie
zu mir: und hatte Recht in jenem Moment. Es ist so leicht, sich in der
Diskussion wichtig zu machen damit. Indem man bloß noch davon spricht,
"wie es gezeigt wird" (Harun Farocki) und vergißt, zu fragen, "was
gezeigt wird" und warum, also was es (das Ganze, in seiner ganzen, konkreten
Gestalt) uns zeigt: was es uns begreifen läßt, auch hinsichtlich
jener Welt heute, in der wir leben, hinsichtlich all jenen spezifischen
Gesellschaftsformationen, im Norden oder im Süden des Planeten, in
denen ein jeder (hier oder dort, so oder so) situiert ist.
Doch der starting point,
die erste Voraussetzung allen Sehens - dann, allen Schreibens - ist
(ich sagte es) ganz eindeutig das Kino. Ein Kinosaal, ein Publikum, eine
Qualität des Bildes und des Tons, die dem Werk gerecht werden.
Ich gebe zu, solange Danièle
Huillets und Jean-Marie Straubs gemeinsam geschaffene Filme in den Dritten
Programmen des westdeutschen Fernsehens gezeigt wurden, solange ich einen
Fernsehapparat besaß oder zumindest bei meinem Bruder, in dessen
Wohnung, fernsehen konnte, war diese Art, Filme der beiden zu sehen, dennoch
nicht selten der einzige noch offen stehende Weg. Denn es stimmte schon
damals: in vielen Städten war ihr Werk nicht zu sehen. Und es war
nicht immer möglich, das Geld aufzubringen, um weit zu reisen und
am Ort der Aufführung zu übernachten.
Heute ist der Boykott ihrer Filme
durch den Markt, durch die Kinos, noch umfassender.
Und heute ist - geht es um Filme
von Straub/Huillet und anderer, ähnlich engagierter Autorenfilmer
- auch der zweite Weg, über die "dritten Programme", mehr oder weniger
versperrt. Es sind - im "vereinigten" Deutschland - fast alle Wege versperrt:
außer dem über die nicht gerade billigen (damit vor allem einem
bildungsbürgerlichem Publikum, wenn es denn wach genug ist, erreichbaren)
DVDs.
Und selbst die gab es, wenn es um
das Werk solch wichtiger, aber vom Markt marginalisierter Filmmacher ging,
lange nicht. Für manche Regisseure trifft das wohl immer noch zu,
wenn sie nicht selbst ihre Filme auf DVD übertragen und dann selbst
verkaufen. Aber mit welchen Schwierigkeiten!
Die Zensur schlägt zu. Die
ökonomische,
sagen sie larmoyant: die, welche "die Kunden" selbst "wählen".
Weil
sie einfach nicht an solchen Filmen interessiert seien. Daran ist etwas
dran, zum Teil: "Die Kunst der Massen ist eine Idee der Kapitalisten",
sagte Godard einmal, nicht ohne Grund. Economics of scale, hohe
Auflagen, schnelle Umschlaggeschwindigkeit der Ware - das zählt für
die "Verwerter" auch jener "Ware Film", als die allein die Kapitalverwerter
Film, Filme, sehen können. Ein Produkt für einen
großen Markt? Nein, durchaus differenzierte Produkte für Marksegmente.
Aber die Waren-Qualität, die Verwertbarkeit, interessiert für
die großen kommerziellen Verwerter der in das Produkt eingegangen
Arbeit vor allem. Unabhängig von der ganzen darin konkretisierten
Intelligenz & Emotion? Unabhängig von all der versinnlichten
Anstrengung und Freude am Spiel? All das, diese konkrete Wahrheit des Films,
zählt wohl eher nicht. Oder nur in Ausnahmefällen - in
Maßen. Denn das Abstrakte der Ware zählt, der abstrakte, zu
realisierende Wert, den man erzielen will. Die Quote zählt, nicht
nur in den "Massenmedien". Auch Kinoketten- Besitzer wollen volle Kinos.
Und so zählt meist der kleinste gemeinsame Nenner, geht es um's Konkrete,
die "Qualität", das Wie und das Was und Warum. Mach's einfach, eingängig,
scheinen all die "vermarktenden", die an Vermarktung Interessierten, den
Filmmachern zuzurufen.
Das gilt, ironischerweise, bei
den von Gremien dann für "künstlerisch wertvoll" erachteten "art
films" nicht viel weniger als bei der "Massenware", die ausdifferenziert
ist nach Genres. Das Irritierende verkauft sich nicht gut. Es kommt auch
in den Gremien oft nicht gut an. Und die "Erziehung zum Sehen", die das
Medium Fernsehen ebenso wie der kommerzielle Film-Vertrieb leistet, ist
ganz überwiegend eine Erziehung zum Übersehen, zum Nicht-Genau-Hinsehn.
Die Zeit drängt; Konsumierbarkeit vollzieht sich schnell oder löst
sich gar nicht ein: das Widerständige läßt sich nicht "konsumieren".
Also geht diese "Erziehung" der "Medien" zum vermeintlichen Sehen nicht
anders an die Dinge und verdinglichten Menschen (ihre Objekte) heran als
jede Erziehung: sie ordnet unter, diszipliniert. Gewöhnt an den "Konsens",
an's übereinstimmende, stimmige Bild. An "Leichtigkeit" nicht des
Seins (denn das Sein ist nie leicht), sondern des vermeintlichen Verstehens.
Man "sieht" ja so schnell alles - glaubt man. Und "versteht" sofort.
O ja, es gibt ein unmittelbares
Verstehen, wenn man sich öffnet. Aber: sich einlassen auf Intuition
ist ein gefährliches Spiel. Das wußten schon die Romantiker;
Schlegel, in seiner kritischen, der Revolution in Frankreich noch aufgeschlossen
zugewandten, produktivsten Zeit. Man wußte, was ein anderer "Mystiker",
ein moderner unromantisch daherkommender Romantiker, Piet Mondrian
so formulierte, als er den "neuen Menschen", der entstehen müsse,
beschwor: das Denken und Fühlen, die Vernunft und die Emotion, sie
gehören zusammen. "Wenn er fühlt, denkt er - wenn er denkt, fühlt
er": der Neue Mensch. Das, richtet sich das nicht gegen das Zerreissen,
Kompartmentalisieren des Menschlichen, der human potentialities,
wie es strukturell unverzichtbar wurde für jene neue, industrielle,
kapitalistische Gesellschaft, die seit Ende des 18. Jahrhunderts in Amerika
und Westeuropa immer klarer Gestalt annahm? Eine Gesellschaft, in der -
um mit Max Weber zu sprechen - eine formale statt eine materielle Logik
beherrschend ist? Jene Vernunft, die nicht nur Herbert Marcuse kritisierte?
Jenes zerrissene Wesen des modernen Menschen, in dem - unter Bedingungen
der Konkurrenz - einzelne Fähigkeiten hypertroph werden können,
wogegen andere verkümmern? Wenn nicht, in vielen, fast alles an Fähigkeiten,
an
Möglichem (statt nur verwertbarem "Potential"), an Spielarten
eines Schöpfertums, das angelegt ist, ganz grundsätzlich,
im Menschen, ein Schattendasein zu führen verurteilt ist... Kanalisiert,
kontrolliert, unterdrückt durch den vorherrschenden Konformismus einer
"Konsumgesellschaft", die den Anschein höchster Ausdifferenzierung,
Freiheit der Wahl, Individualität des "mündigen Konsumenten"
hervorbringt. Aber: wir wissen, ökonomische Verhältnisse sind
zugleich Machtverhältnisse. Und die an den Hebeln sitzen (letztlich
wenige, in Relation zu der "Masse") bestimmen, was die Masse konsumiert.
Die Auswahl ist immer nur eine Auswahl unter dem Angebotenen. Und das Angebot
bestimmt die Kapitalseite. Es sind ihre Interessen, ihre Bedürfnisse,
die darin zur Geltung kommen.
Aber, wird man uns sagen, es
gibt doch jetzt die Nischenprodukte. Gibt sogar DVDs mit Filmen von Straub
und Huillet. Beweis genug, wie flexibel das Kapital auf selbst marginale
Wünsche kleiner Nachfragergruppen reagiert! - Irrt euch nicht,
entgegne ich. Die Haupttendenz ist die, daß die Filme von Straub/Huillet,
Agnes Varda, Chantal Ackerman aus den deutschen Kinos verschwanden. Ja
um so mehr verschwand etwas, je bewußter politisch es war. Sogar
Godards Filme sieht man nicht mehr im Kino. Und in Frankreich ist es mehr
oder weniger dasselbe. Gleichzeitig redet man Brecht "tot", stempelt ihn
zum Langweiler in den allemal darin (mit ganz wenigen Ausnahmen)
sich einigen Medien. In den großen, "bedeutenden" zumal. Robert
Kramer? Wo sieht man, in den USA, in Frankreich, Deutschland, seine Filme?
Und Italien? Grundsätzlich anders ist es dort wohl kaum: allerdings
scheinbar
- und manchmal wohl wirklich - "schlimmer", weil ein Berlusconi
die öffentlichen und privaten Massenmedien sich unterwirft. Und "liberale"
Intellektuelle nichts dabei finden, Fortini "einen alten Stalinisten" zu
nennen. Man muß ja wohl eher abrechnen mit dem toten Hund des Realsoz,
den Robert Kramer "diese Perversion eines alten menschlichen Traums" nannte,
als mit der schrecklich lebendigen Realität eines neuen corporate
feudalism, einer Entdemokratisierung Nordamerikas und Europas, im Interesse
der transnational operierenden, Märkte wie Politik beherrschenden
großen Konzerne. Eine Tendenz, dies, für die vor allem die europäische
"Verfassung", die merkwürdige Rolle der Europäischen Kommission
als Sprachrohr des big business und seiner Interessen, sowie ein
zahnloses Europaparlament heute steht.
Es gibt keine Zensur? frage ich.
Aber nein, sagt man. Es gibt sie nicht. Nirgends. Du FANTASIERST ! Doch
als Polanski einen Film dreht, in dem er - zutreffend, könnte man
meinen - Blair als "Agenten der USA" dekuvriert, holt man eine dreißig
Jahre alte Gerichtsakte, längst verstaubt und vergessen, hervor und
läßt ihn in die wegen des USB-Skandals unter Druck stehende
Schweiz einladen, damit die ihn verhaften.
Es gibt keine Zensur? frage ich.
Aber nein, nirgends, antworten sie: behaupten es fast alle. Doch Filme
wie die von Straub und Huillet, ich sagte es schon, die wenigstens würde
man auf der Leinwand sehen - Widerschein, Schattenspiel, dianying, moving
shadows, während man unterhalb des levels der Tonspur noch
das Geräusch leise spürt, das der Projektor erzeugt. Das milchglasige
Kunststoffbild alter Fernseher, oder das neue Plasma-, Flüssigkristall-
oder LED-Bild ist eben ein anderes: von anderer, weniger sinnlicher Qualität.
Die Zensur, die sich als "ökonomisch"
legitimiert, ist übrigens keine, die nur die Filmmacher trifft, welche
die Wirklichkeit, wie sie ist, kritisieren. Man hat schon - war das nicht
Ende der 70er Jahre? - Libération "gekippt", und in Deutschland
die "taz". Das dummfreche Blödeln mischte sich mit Besserwissen zum
medialen Diskurs einer - angeblich dank '68 - vermeintlich "freien",
"unideologischen", "nonkonformistischen Jugend", wo deren Wortdrechlser
sich dem schicken Journalismus von heute verschrieben. Eine Spezies, die
aber nur die "ausdifferenzierte", auf jugendlich geschminkte Variante der
Lohnschreiber ist? Oder doch nicht ganz? Wer die Filmkritiken der
"taz" zu Filmen von Straub/Huillet gelesen hat, kann sich in der Regel
nur wundern: über das Ausmaß der Oberflächlichkeit, das
fehlende Hinschauen, das mittelmäßige, laue Argumentieren, das
eine wirkliche Denkarbeit nicht vortäuschen kann. Und ist es in Frankreich
anders? Infotainment ist gefragt. Die jungen Leser; die der Markt sich
wünscht und deren Typus er hervorbringt, sollen sich mokieren, gackern,
feixen können: dieses Marktsegment, als das vornehmliche Zielpublikum,"will
nicht gelangweilt", "will unterhalten werden". Scheint man vorauszusetzen.
Und bemäntelt damit nur die eigene Denkfaulheit.
Doch irren wir uns, wenn wir sagen,
daß nicht nur diese Blätter "den Bach runtergingen", sondern
eins nach dem anderen die als seriös geltende, bürgerliche, oft
linksliberale Mainstream-Presse? Die Frankfurter Rundschau, Le Monde,
die Süddeutsche Zeitung? Man sollte da auf die Änderung der Besitzverhältnisse
schauen. Die große Zeit von Wolfram Schütte bei der Frankfurter
Rundschau ist endgültig vorbei. Wo blieb der großartige Eckart
Spoo? Warum fand er keinen Platz mehr im Redaktions-"Team" der Rundschau?
Erst machte man, unter dem Einfluß der SPD-Medienholding, ein laues
Blatt daraus, und dann verschacherte man es an jemanden (Neven-Dumont),
der daraus eine Variante des Kölner Express, wenn auch layoutmäßig
"modernisiert", machen ließ. Le Monde? Welche Waffenfabrikanten,
Bankiers und sonstige, der Presse und einer kritischen Debatte nicht wohlgesonnene
Typen sind Mehrheitsaktionäre bei Libération, bei Le Monde?
Schon mal "Rothschild" gehört? Oder "Hersant"? "Dassault"? Und was
die Süddeutsche, ein zahmes Blatt, anging, sie "machte" sich, so schien's,
wurde mutiger, kurz - als der Frankfurter Rundschau die kritischen
Leser wegliefen. Jetzt hat man sie an einen Hedgefond verhökert; Rendite
zählt mehr denn je; Redakteure wurden entlassen. Inhaltlich "gestrafft"
- das Blatt. Nur ein Reflex der Zeitungskrise, der Konkurrenz des Internet?
Aber ist es denn Zufall? Auch im
Buchgeschäft zu einiger Bedeutung gelangte, "renommierte" Verlage,
die zeitweise bekannte (also marktgängige) linke Autoren veröffentlichten,
machen längst Front gegen links. Zwerenz sprach - am Telefon, vor
einigen Jahren - nicht ohne Grund von der "Hausfrauenliteratur", die en
vogue sei - und daß Elke Erb, Hannelies Taschau, selbst Volker
Braun es jetzt schwer hätten. Die kleinen Buchverlage und die Presse
der kritischen Linken, sie sind weg oder "krebsen" - genauso wie die kleinen
Kinos, die Filme von Chris Marker, von Joris Ivens, von Straub/Huillet,
Godard, Kramer gezeigt hatten.
Ja, ich weiß: das Publikum
hat sich auch geändert. Dann: diese Unzahl von "Linken" der Jahre
kurz vor und nach '68, die abdrifteten, der Karriere zuliebe, in rechts-sozialdemokratische
Fahrwasser. Oder weiter noch nach rechts, wie die "neuen Philosophen" in
Frankreich! Als ob sie erst 1980 oder 1989/90 erfahren hätten, daß
es einen "Gulag" gab! Als ob Sartre und auch Simone de Beauvoir nicht schon
um 1968 gesagt hätten: manche Konzepte, manche behaupteten Ziele des
maoistischen China (Überwindung der Trennung von Kopf- und Handarbeit,
Abschaffung der materiellen Privilegien und der politisch-bürokratischen
"Leitungsrolle" der Intellektuellen, Aufhebung des Widerspruchs zwischen
Stadt und Land) seien interessant - aber wie es mit der gesellschaftlichen
Realität dort wirklich aussehe, dazu könnten sie nichts sagen:
ob Potemkinsches Dorf oder fortschrittliche Wirklichkeit, das sei angesichts
fehlender Überprüfbarkeit offen. Es ist nicht mehr offen, heute
- oder nicht ganz. Verwischte man die Widersprüche der Realität
früher zugunsten der einen Seite, so heute zugunsten der anderen.
Daß der Realsoz, auch die chinesische Variante, schwarz/weiß
zeichnete, rächt sich. Die Mythen kippen um, ins Gegenteil. Was als
weiß galt, gilt jetzt als schwarz, und umgekehrt. Die dominanten
Medien kochen ihr Süppchen; "Linke", die einst naiv idealisierten,
landen bei Verlagen, als Kolumnen-Schreiber, als Buchautoren und (groß
im Verdrängen) verteufeln sie, was sie vergöttert hatten.
Gut, die Linke, als breite Strömung,
ist weggebrochen. Und sie wuchs, vor allem, lange Zeit nicht nach. Das
hatte durchaus Gründe. Die ideologische Gegenoffensive, die gezielte
Indoktrination, das Immunisieren gegen links, in den Medien und (was
für die jungen Menschen von Bedeutung war) in den Schulen, das zeigte
ja Wirkung - war es doch etwas, das schon in den 70er Jahren eingesetzt
hat.
Denn das Übergreifen der antiautoritären
Formen und Vorstellungen auf die Lehrlinge und Schüler, die sich zaghaft
bildende Lehrlings- und Schülerbewegung, kurz nach '68, das
machte den Herrschenden Angst. Darum: das Schließen der Autonomen
Jugendzentren, das Streichen der Mittel dafür. Darum die Berufsverbote,
die Überprüfung der angehenden Lehrer, das Aussieben jener unter
ihnen, die in der Linken aktiv waren. Darum der erhöhte Anpassungsdruck
für den Rest. Auch wer publizieren wollte, auch wer die Chance dazu
bekam, paßte sich oft zunehmend an.
Von nichts kommt nichts. Das Pendel
schwang nach rechts; zuvor war es, wenigstens für kurze Zeit, in einigen
Bereichen der Gesellschaft, in die andere Richtung geschwungen, deutlich
und mutig und erfrischend nach links. In Westdeutschland - klar - war
das auch unter jenem starken Eindruck geschehen, den Faschismus, Krieg,
dann Wiederbewaffnung auf Studenten, auf angehende Lehrer in den späten
40ern, den 50er und frühen 60er Jahren machten. Je mehr alte Lehrer
mit Nazi-Vergangenheit 10, 15, 20 Jahre nach der Niederlage des Hitler-Regimes
aus dem Dienst schieden, je mehr junge Lehrer an die Schule kamen, um so
größer die Chance - zumindest in den frühen 60er Jahren
-, daß unter den Lehrern einer Volks-, Mittel- oder Oberschule auch
ein kritischer, aufklärerisch wirkender Lehrer tätig war.
Die Spielräume für solche
Menschen haben sich seither, ungeachtet allem Gerede von einer deutlich
größeren Liberalität "unserer Gesellschaft im Gefolge von
'68", oft nicht erweitert; sie haben sich viel eher deutlich verengt. Die
forcierte Konkurrenz kommt hinzu. Also die Steigerung der verhaltensmäßigen
und psychologischen Bedeutung, die das "Leistungsprinzip", als Chiffre
für kaltes Gegeneinander, von früh auf an - nämlich schon
bei den dem schulischen Alltag unterworfenen jungen Menschen - im heutigen
Deutschland und in Europa erfährt. Das vollzieht sich immer wieder
auch auf Kosten einer humanen Kooperation, eines freundlichen, gegenseitige
Hilfe in den Mittelpunkt stellenden Miteinanders, welches schlicht nicht
systemkonform und insofern, vom "Standpunkt des Marktes", also der Herrschenden
wie der Karrieresüchtig-gemachten unter den "Unteren", objektiv kontraproduktiv
ist. Und zwar im Beruf ebenso wie zuvor schon in wichtigen Sozialisations-
und Ausbildungs-Institutionen - im Schul- und Hochschulbereich. Und
dort besonders seit der Einigung auf die (unter dem Stichwort "Bologna-Prozeß")
in Lissabon von den EU-Politikern und Bürokraten vereinbarten, schamlos
ob ihrer Wirtschaftsfreundlichkeit gepriesenen Ziele.
So greift eins ins andere: der backlash
an den Schulen seit Anfang der 70er Jahre, der die jungen Generation weitgehend
zu prägen versucht, wenn er sie nicht längst (bis auf Ausnahmen)
prägt. Die Akademikerarbeitslosigkeit und der Anpassungsdruck (nach
rechts), der daraus resultiert. Die politische Wende von 1989 - ein Schlüsselmoment,
weil die entscheidene Voraussetzung des "Klassenkompromisses" der Kalten-Kriegs-Ära
wegbrach. Eines Kompromisses, der in Westeuropa spätestens 1948/49
de facto geschlossen, wenn nicht politisch bewußt beschlossen
wurde "zwischen Kapital und Arbeit", zwischen herrschenden politischen
und Wirtschaftseliten und den von ihnen kooptierten reformistischen Partei-
und Gewerkschaftsführern, die sich für den "Pragmatismus", die
"kleinen Fortschritte" zu entscheiden glaubten - und gegen den Stalinismus.
Es war ein Kompromiß auf Zeit, ohne daß die "Reformisten"
dies ahnten, geschweige denn voraussehen konnten. Und der dann, ab 1989/'90,
infragegestellt wurde von einer (der herrschenden) Seite, und der
heute, im wesentlichen, aufgekündigt ist, weil die Notwendigkeit schwand,
einen potentiellen inneren Gegner angesichts eines äußeren
(nämlich des Realsoz, des deformierten "Sozialismus") zu pazifizieren.
Also stillzustellen, aus der unerwünschten zweiten Frontlinie zu nehmen,
und zwar durch Einräumung erweiterter gewerkschaftlicher Rechte (collective
bargaining; Mitbestimmung) und durch Konsum-Ausweitung (sogenannter
"American way" oder "standard of life" der ideologisch dadurch weitgehend
in eine middle class mutierenden working class; also relativ
beständige "Erhöhung des durchschnittlichen Lebensstandards"
der Arbeiterklasse, jedoch nur in den die Welt ausplündernden kapitalistischen
Zentren mit Einschluß des besiegten Deutschland und Japan, aber auch
(in Bezug auf die "Mittelklasse") in Taiwan und Südkorea - die
so ebenfalls zu Schaufenstern der "Marktwirtschaft" dicht am "Eisernen
Vorhang" (der "Systemgrenze"!) gemacht wurden.
Natürlich hat sich das "gesellschaftliche
Klima", haben sich die Bedingungen linker Literatur-, Theater-, Kunst-
und natürlich auch Filmproduktion geändert unter diesen "Vorzeichen",
angesichts dieser Umstände. Daß es Zyklen, politische Konjunkturen
gab, die nicht immer zu den ökonomischen parallel liefen, ist unbestritten.
In den späten 1940er und frühen '50er Jahren, der Zeit des offen
sichtbar gewordenen Antagonismus zwischen den Vereinigten Staaten und der
Sowjetunion - den beiden großen Verbündeten im Krieg gegen Nazi-Deutschland
(und zum Schluß auch gegen Japan) -, haben Kongresse für die
behauptete Freiheit der Kunst im Westen stattgefunden, finanziert von der
US-amerikanischen Regierung. Und zwar in Paris, in West-Berlin usw. Und
dies zu ungefähr derselben Zeit, als Künstler, Schriftsteller,
Filmmacher in den USA einer Hexenjagd unterworfen wurden, als manche von
ihnen Berufsverbot erhielten, auf schwarzen Listen landeten, sodaß
sie brotlos wurden (zumal in Hollywood, ob nun als Sänger, als Filmregisseure,
als Autoren von Filmskripts, usw). Gleichzeitig machte das politische Establishment
in den USA Gelder locker, damit wichtige öffentliche und private Institutionen
der Kunst (darunter das Museum of Modern Art) gezielt über Ausstellungen,
Ankäufe, über ideologische und bürokratische Intervention
nicht nur im eigenen Land, sondern gerade auch im durch eine starke Linke
"gefährdeten" Westeuropa (Frankreich, Italien, zeitweise auch Westdeutschland)
Weichen stellten zwecks Kaltstellung der kritischen Realisten. Die sozialkritische
oder zumindest auf diverse Weisen um Realismus ringende bildende Kunst
in den USA, ob nun die Wandgemälde von Diego Rivera, die grotesk-halbsurrealen
Arbeiten von Katz, die der Industrie und der Welt der Arbeit zugewandten
Werke eines Charles Demuth, die sozialkritische Photographie zahlloser
Photographen, die - von der WPA gefördert - sensible Dokumente des
Elends und der Würde der underdogs während der Great Depression
geschaffen hatten, ja auch ein Kino, wie es John Ford mit seiner Verfilmung
von Steinbecks
Grapes of Wrath in dieser Zeit VOR DEM COLD WAR realisieren
konnte: all das kam - inoffiziell - auf den Index, wurde ausgebootet, als
unamerikanisch verleumdet, weggestellt, dem Massenpublikum bewußt
vorenthalten. Gleichzeitig förderte man unauffällig aber gezielt
jene (nicht unbedingt schlechten) Künstler, die sich durch Abkehr
von der Wirklichkeit, Anti-Realismus (und keineswegs nur Anti-Naturalismus),
durch "private Obsessionen", Idealismus statt Materialismus der Weltsicht,
oft vor allem (gerade in der bildenden Kunst) durch einen Hang zur Abstraktion
auszeichneten. Abstrakte Kunst galt den Herrschenden als unverdächtig,
als nicht gefährlich: sie wurde ihr liebstes Kind, gehätschelte
"innovative" Hervorbringung einer "freiheitlichen Grundordnung", einer
kapitalistischen Demokratie, eines "demokratisch" sich gerierenden Kapitalismus.
Weg also, aus dem Gedächtnis, mit John Heartfield! Und ebenso
mit Käthe Kollwitz und den chinesischen Künstlern der 30er, 40er
Jahre, die - von ihr inspiriert - grandiose Holzschnitte schufen:
Kommentare zu den Wirren, dem Elend, dem Unrecht, das in ihrem Land herrschte!
Aber daß die abstrakte Kunst ganz vital Seite an Seite mit
einer gegenständlichen seit der Zeit des Ersten Weltkriegs
existiert hatte, daß Picasso mit Guernica ein intervenierendes Werk
schuf, das in seiner Formensprache abstrahiert, vereinfacht, gerade
das hätte sprechen müssen für die weitere Möglichkeit
eines Nebeneinanders dieser Ausdrucksformen - wenn, ja, wenn der Wille
nicht bestanden hätte, eine dieser Formen zu marginalisieren, um der
anderen, der unpolitisch gewollten, zur Dominanz zu verhelfen. Hatte
der naive Naturalismus, hatten die schlechteren Varianten der gegenständlichen
Kunst das WAS privilegiert, um dem WIE, der Form, kaum noch eine Chance
sich erneuernder Gültigkeit zu gewähren, so galt es jetzt, das
WAS, den Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, zu ächten, ihn
zu brandmarken, ihn zu ignorieren, um dem WIE, der Formensprache, die alleinige
Bedeutung beizumessen, die Kunst haben könnte. Die dialektische Einheit
von WAS, WIE, WOZU wurde zerrissen - und das nicht ohne Grund.
Es ist kein Wunder, daß im
Wirtschaftwunderland Westdeutschland die Literatur der Emigranten, die
aus Hitler-Deutschland geflohen waren, nachgerade "vergessen" wurde. Man
knüpfte nicht mehr an bei Piscator. In der Adenauer-Zeit war Brecht
tabu; die Schweiz kam ihm, oder doch seinem Werk - einer bestimmten,
vermeintlich "das Allgemein Menschliche" ins Auge fassenden Lektüre
desselben! - immerhin dank Dürrenmatts Interesse daran ein wenig
entgegen. Anna Seghers, Heinrich Mann, Feuchtwanger: gedruckt und gelesen
wurden sie in der DDR, nicht im Westen. Dort knüpften Böll und
andere an Pavese an (der selbst das neorealistische Erbe gegen den Einfluß
der US-amerikanischen Moderne auswechselte) - und an Hemingway. Grass,
der Sozialdemokrat, machte Furore. Seine rückwärtsgewandte Sicht
galt der alten Heimat, Danzig. So wie Herta Müller heute die Leiden
der Bewohner ihres früher deutschsprachigen Dorfes in Rumänien
in den Mittelpunkt stellt, sensibel, gewiß. Aber daß deren
Leiden eine Vorgeschichte hatten, daß ihr Vater in der SS war (wie
auch Grass als junger Mann), daß alle Dorfbewohner begeistert für
Hitler, daß die Männer des Dorfs - waren sie nicht zu jung oder
zu alt - "allesamt in der SS" (ein paar auch in der Wehrmacht?) gewesen
waren, erwähnt sie nur, kleinlaut, am Rande. Das Trauma dieses Kindes
- Herta - , weitergegeben an das Kind von der durch die zeitweilige Deportation
ins Donez-Becken traumatisierten Mutter, steht verständlicherweise
im Mittelpunkt ihres Werks als seine unerschöpfliche Quelle. Das ist
nicht kritisierbar; wohl aber die fehlende Bewußtheit, wohl ein hinter
der Geschichte zurückbleibendes Denken, das das eine mit dem anderen
nicht in Beziehung setzen kann oder will, das es vorzieht, das Isolierte,
aus dem historischen Kontext Gerissene zu "malen". Als isoliertes Geschehen
wird aus der Wahrheit, die die Erzählung erstebt, Lüge. Politisch
aber ist die Wahl des Nobel-Preis-Komitees, die erfolgt ist in einer Zeit
des Triumphes des Neoliberalismus und des westlichen Hegemonismus (der
sich als Projekt der politischen, militärischen und kulturellen
Globalisierung versteht und das erneute, erweiterte Realwerden des Weltmarkts
begleitet) fatal. Fatal, weil sie wirkt als Beglaubigung jenes Triumphes:
Bestätigung eines Frohlockens, Lachens und Auf-die-Schenkel-Klatschens
angesichts all der gescheiterten Versuche, das Neue zu schaffen, auch in
Rußland, auch in China, wo Hoffnung blühte, wenn auch nur kurz,
daß diese Versuche der Konstruktion des Neuen menschliche Verhältnisse
möglich machen würden. Angesichts des Triumphes, den die Wahl
der Preisträgerin impliziert (selbst wenn es dieser als Wiedergutmachung
von erlittenem Leid erscheinen mag, so, als habe nur sie, als hätten
nur "diese Deutschen" gelitten) war es eine politische Wahl: eine Wahl,
welche die Unaufrichtigkeit, nämlich den Mangel an Denkbereitschaft
prämiert, den Verzicht auf den Versuch, das Ganze, die ganze Geschichte
zu sehen und zu verstehen, in ihrem Zusammenhang. Es ist eine Wahl, getroffen
von Triumphierenden.
Und darum, so können wir vielleicht
sagen, ist auch das (vorübergehende?) Verschwinden der Filme von Straub/Huillet,
Godard, Kramer, Ackerman, Varda, Ivens, Marker, Peter Nestler und vielen
anderen (diese eurozentrische Liste läßt ja wichtige Filme der
sogenannten Dritten Welt ganz außen vor!) auch ein Resultat jenes
schleichenden, jenes oft uneingestandenen, jenes obszönen Triumphes,
der den Markt über die Poesie, den Profit über die Schönheit,
und die Macht, die Kontrolle, ausgeübt über Menschen, über
die Menschlichkeit stellt.
Die kleinen Korrekturen einiger
öffentlichen Institutionen, wie des Film Museums im einst neutralen
Österreich, wo noch einige Aufrechte dem Gegenwind trotzen, wo man
jetzt die DVDs mit Filmen von Straub/Huillet zugänglich macht, wirken
- objektiv gesehen - wie Alibis einer sich pluralistisch nennenden westlichen
Welt. Aber es sind, bei allem erforderlichen Mut, den solche Strategien
des Vermarktens des "Irritierenden", des "Tabuisierten" erfordern, oft
auch Akte der Musealisierung, der versuchten Entschärfung, der Reduktion
auf "ewige Kunst", dieser im Moment ihrer Produktion, ihres Entstehens
so lebendigen, da kritisch in die Verhältnisse intervenierenden Filme.
Ist somit ein Schreiben über
einen Film wie Danièle Huillets und Jean-Marie Straubs 'Klassenverhältnisse',
das der konkreten Weise der beiden nachspürt, allen Widerständen
zum Trotz zu intervenieren in die Kämpfe und Auseinandersetzungen
unserer Gesellschaft, ein kleiner, aber notwendiger Versuch der "Richtigstellung",
auch in Bezug auf die Verantwortung der Kunst? Also Moment eines Widerstands
gegen
eine Tendenz; ein Akt, der sich richtet gegen eine vor allem
politische Konjunktur, deren Apologeten noch auftrumpfen, selbst wenn wir
spüren, daß der Wind beginnt, sich zu dreh'n?
(2009)
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