Ästhetik, Kultur, Klassenverhältnisse
Ist nicht doch eine Kulturrevolution notwendig? Die Angriffe
der Bourgeoisie treffen Brecht zugleich mit Straub-Huillet
Dieses Schreiben eines deutschen Kulturbürokraten
an Jean-Marie Straub, das die Ablehnung einer öffentlichen Förderung
seines Filmes Geschichtsunterricht begründet, habe ich
heute morgen nicht gefunden. Jean-Marie schickte es mir, mit seinem handschriftlichen
Kommentar, zu Anfang der 70er Jahre. Es mag verloren sein, so wie mein
Text zu dem Film, den ich damals verfaßte. Aber ich erinnere den
bürokratischen Ton dieses Schreibens. Und vor allem, das entscheidende
Argument: daß es da einer “Story” – einem “plot” des Films –
an Plausibilität, oder Stringenz, oder erzählerischer Notwendigkeit
fehle.
So urteilten deutsche Oberlehrer; so urteilt auch der
in seiner Fähigkeit des Sehens beschädigte Kinogänger, dem
man beigebracht hat, auf das “Erkennen” einer Story fixiert zu sein, statt
zu sehen, zu sehen und zu hören.
Zu hören: nicht nur die Worte. Sondern auch die Geräusche des
Winds. Das An-den-Strand-Schlagen der Wellen. Nicht nur die Oberfläche
der Worte. Sondern auch ihren Ton – ob nun spöttisch, hart, liebend,
verlegen, oder voller Angst gesprochen. Und mehr noch gilt es doch, das
zu vernehmen und zu verstehen, was uns so oft entgeht: den verborgenen
Sinn hinter den Worten, der sich erschließt aus dem Kontext von Worten
und Tun, dem Gesamt menschlicher Praxis, in einem Zusammenhang, der gesellschaftlich
ist.
Die Bundesrepublik hat in jenen Jahren nicht wenige Filme
gefördert. Die von den Wählern ins Amt Gebrachten proklamierten
einen Kulturauftrag. Die Mittel, die diese Förderung ermöglichten,
stammten von den “Vielen”, aus den direkten und indirekten Steuern, die
sie zahlten. Aber der, der in seiner delegierten Machtvollkommenheit, als
ein Torwächter einer politischen Klasse – ob er sich dessen
nun bewußt war oder nicht – , Jean-Marie Straub und Danièle
Huillet abschlägig beschied, als sie den Antrag auf Förderung
stellten, nahm Anstoß. Anstoß, so schrieb er, an der langen
Autofahrt durch die Straßen Roms.
Sie erschien ihm als unmotiviert, unerheblich für
die von ihm offenbar anvisierte “Literaturverfilmung”, die Umsetzung
eines literarischen Texts – jenes Romans von Brecht, den der Film neu sehen
macht.
Ja: neu sehen. Und dies, indem der Film
aktualisiert. Indem er die Vergangenheit und die Gegenwart in eine visuelle
und akustische Beziehung setzt. Nicht nur, weil das Heutige in Gestalt
der Schauspieler, ihrer Körper, Stimmen, Bewegungen und Gedanken präsent
ist, sondern auch, weil der Ort – Rom – in seiner Gegenwart
und Geschichte, seinen Gassen, kleinen Läden, Werkstätten der
Handwerker und seinen Ruinen ins Bild rückt.
Wie Brechts Roman(fragment) und zugleich anders,
filmisch, visuell und akustisch, läßt der Film das Vergangene
in seinen frappierenden Analogien zum Heutigen erkennbar werden. Und dies
sinnlich, konkret situiert, was auch heißt: materialistisch.
Weil die Realität der denkenden, fühlenden Körper und ihres
Ortes präsent ist. Weil Geschichte präsent gemacht wird,
als – nicht inszenierte, sondern etwas, auf das verwiesen
wird, in seinen Überbleibseln, Dokumenten oder Ruinen. Und
in den Reflexionen, der Heutigen, die ihr gelten. Ein materialistischer
Film ist es auch, weil das Denken, das “gezeigt” wird, etwa im Gespräch
zwischen zeitgenössischem jungen Mann und dem in die antike Robe gehüllten
Darsteller des “Bankiers”, nicht ort- und körperlos bleibt.
Sinnlich und zum Denken anregend ist es, als sehend Hörender und hörend
Sehender im Kinosaal anwesend zu sein vis-à-vis dem von den Darstellern
(dem jungen Mann, dem “Bankier”, dem "Anwalt") uns vor Augen (und
Ohren) geführten Prozess des immer wieder neu einsetzenden Fragens,
des Nachfragens, der – sei es offenen, sei es manchmal auch ausweichend
gegebenen Antworten. Es ist dies ein Prozess, der auch das implizite,
sich im Kopf des jungen Mannes vollziehende, zu neuen Fragen und Antworten
Anlaß gebenden Denken ganz brechtisch zeigt. Es ist also das Denken
selbst, als ein heutiges, das, wiewohl unsichtbar, durch die Situation,
die Akteure, ihre Worte, durch den Bezug der Worte zu einer –
der unseren in vielem vergleichbaren, in ihren Überresten sichtbaren
(auch betastbaren und betretbaren) – Vergangenheit
in eine visuelle und akustische Beziehung gesetzt ist. Zu beidem: Zum Jetzt,
und zum Damals. War dieser doppelte Bezug nicht auch das, worum es Brecht
in seinem Text Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar
ging?
Und war es nicht genau das, woran die Verteidiger des
Bestehenden – und ihr bürokratischer Sachwalter – seinerzeit Anstoß
nehmen mußten? Woran sie, die herrschende Klasse und alle mit ihr
verbandelten vermeintlichen oder realen Nutznießer des changierenden
Status Quo ungleicher (Aneignungs- bzw. Klassen-) Verhältnisse heute
Anstoß nehmen?
Ist also der Einwand gegen das lange Traveling der
auf dem Auto angebrachten bzw. im Auto befindlichen Kamera durch die Gassen
der Altstadt Roms, mit ihren “kleinen Leuten” von heute und ihren seit
Jahrhunderten so bestehenden, sich kaum verändernden “Handwerkerhöhlen”,
nur ein Vorwand?
Ja und nein. Einerseits kann man sagen: Der Film, das,
worum es ging, paßt den heute Herrschenden nicht. Was er ins Licht
rückt, paßt ihnen nicht. Aber auch, wie er es tut, das paßt
ihnen nicht. Diese “Ästhetik” – die Brechtsche – ist immer noch zu
ungewohnt. Da sträubt sich alles. Da ist alles nicht glatt und konsumierbar
genug; das gleitet nicht runter wie Öl; das bestätigt das Bekannte,
“Gewußte”, das durch Jahrzehnte der medialen Manipulation ins Gehirn
Festgebrannte nicht.
Da kommt etwas zu klar ins Bild, in den Blick. Clarté
und
beauté,
Klarheit und Schönheit – klassisch wie schon bei Corneille ins Bild
gesetzt, in eins gesetzt, untrennbar, unablösbar von einander. Brechtsche,
materialistische Ästhetik. Straub-Huillet'sche.
Es ist dies ins Bild Gesetzte und ins Bewußtsein
Gebrachte ganz deutlich etwas, das die vorherrschenden His-Stories
verschweigen, das auch die Latin lessons, der Lateinunterricht,
wenn er uns Caesars “Gallischen Krieg” vorsetzte, umschiffte und mit Nebelwolken
umhüllte. Sallust machte das deutlicher, die Fraktionskämpfe
innerhalb der dominanten Eliten im Alten Rom, und wie “das Volk” (plebs,
Plebejer, der “Mob”) zur Manövriermasse einer inszenierten “Demokratie”
in Rom wurde.
Was Parallelen zum Heutigen nahelegt. Denn es ging Brecht,
geht den Straubs, auch – nein, vor allem! – darum. Und um die zugrunde
liegenden Klassenkonflikte. Um das Sichtbarmachen materieller Interessen
der Herrschenden, ihrer “demokratischen” Manipulationsstrategien und Taktiken.
Darum, uns die Zusammenhänge, damals, erkennen zu lassen,
um daraus – für die Gegenwart, die andere, aber immer
noch von Klassenverhältnissen, Klassenkonflikten, und Interessen geprägte
– zu lernen.
Und so erfahren wir, bei Sallust, klarer bei Brecht, dann
bei Straub, einiges über diese Herrschenden: ihre damals erkennbar
weit entwickelte, bereits in nuce handelskapitalistische,
auf große Getreideimporte für die Metropole Rom spezialisierte
Praxis, ihre Geld- und Terrain-Akkumulation, die Rolle der “Geldsäcke”,
der “Bankiers”, die Verflechtung mit dem entstehenden Latifundismus, der
antiken Plantagenwirtschaft, absentee landownership reicher Römer
auf der Basis der Ausbeutung von Sklaven. Und über die gleichzeitige
Verarmung der römischen Unterschichten, die mit Brot und Spielen bei
Laune gehalten werden mußten; über die Fassade der antiken “Demokratie”,
hinter der sich nicht nur der Gegensatz von oben und unten verbirgt, sondern
auch die Interessengegensätze, die Widersprüche innerhalb der
Kreise, die um die Macht ringen, wozu ihnen jedes Mittel recht ist: der
imperiale Krieg, das Ködern verführbarer Massen, der Putsch,
und die Diktatur.
* *
*
In seiner Rezension des von Herbert Linder mit Danièle
Huillet und Jean-Marie Straub übersetzten Corneilles'schen Dramas
Otho
(dessen
Text zu einer Grundlage des Films Othon wurde) hat Rupert
Neudeck in der FILM-Korrespondenz Nr. 4 vom 1. April 1975 die Straub-Huillet'sche
“Lesart” der antiken Geschichte scharf angegriffen. So unterstellt er den
Straub-Huillet'schen die Film-Zeit sowohl
in der Gegenwart
verankernden wie in die Geschichte Roms zurückverlegenden
Filmen, daß diese die Spezifik der Epochen ignorierten, die sie doch
gerade, auch sinnlich – etwa im Film
Geschichtsunterricht
– durch die Gleichzeitigkeit von moderner Kleidung des jungen Mannes und
antiker Toga des “Bankier”-Darstellers, durch das Zeigen des Verkehrs in
den Gassen Roms und der zweitausend Jahre alten Ruinen (unter ihnen,
der Drehort, an dem die Gespräche stattfinden!) – in
eine Beziehung setzen, und eben
nicht gleichsetzen.
Es ist halt nicht so, wie Neudeck unterstellt, daß
Straub von einem Kapitalismus der römischen Antike spricht oder (in
Neudecks verqueren Worten, “den von Marx ...epochenspezifisch verwendeten
Kapitalismusbegriff einfach nach hinten in die Geschichte ad libitum verlängern”
will). Sondern Straub sieht und verdeutlicht, darin Brecht folgend, die
Parallelen. “Das römische Reich und der Kapitalismus sind beide bis
zu einem Punkt gekommen, an dem sie nur noch Ruinen produzieren können.”(J.-M.
Straub) Auch dies zeigte Brecht, zeigten Danièle Huillet und
Jean-Marie Straub: manche Strategien der herrschenden Klasse sind nicht
so neu; sie wiederholen sich, in Variationen: Die Intrigen, wenn es um
Machtkämpfe innerhalb der eigenen Klasse geht; die Brutalität
der Auseinandersetzungen um die Macht in der fraktionierten herrschenden
Klasse. Die Bereitschaft, Raubkriege zu führen und Kriege aus innenpolitischen
Gründen. Der Expansionismus. Das Bedürfnis nach Anhäufung
endlosen Reichtums, heute in Form der tendenziell immer stärkeren
Konzentration des Kapitals, im Rahmen seiner vorangetriebenen Internationalisierung.
Dann, die Spekulation... Das Unmündighalten der Unteren, durch panem
et circenses, sprich: “entertainment” und “Soziales” . (Letzteres,
wenn das Geld reicht in den Zentren, wie Rom; heute: im Zentrum der Welt,
was heißt, Nordamerika, Westeuropa, Australien, Japan & Neuseeland.)
Doch vergessen wir auch nicht die Verachtung der Massen und ihren Ausschluß
aus der (“hohen”) Kultur. Auch das ist den Klassengesellschaften, von denen
die Rede ist, gemeinsam: die Furcht der Oberen vor der “Revolte” der Unteren,
und das Ausbrechen von Revolten. Ja, die Pazifizierung der Ausgebeuteten
und real (trotz aller formalen Rechtsgleichheit) weitgehend Entrechneten
gelingt nicht immer und überall. Denn die Entrechteten wissen um ihre
Lage, und dabei ist es gleichgültig, wie sehr sie zu Zeiten – auch
aus Selbstschutz – dieses Bewußtsein zu verdrängen suchen. So
hat der Volksmund, was die formale Gleichheit des Rechts angeht, seine
aus Erfahrung gewonnenen Sprüche: “Die Kleinen hängt man; die
Großen läßt man laufen.”*
Für Neudeck ist das direkte Erkennen der Unteren,
die gewitzt sind durch Erfahrung, gewonnen aus ihrer spezifischen Lage,
eine Mystifizierung, eine romantische, nachgerade idealistische, auf jeden
Fall unzutreffende Annahme. Diesem relativ privilegierten Kritiker zufolge
sind es “abstruse Erwartungen und Utopien..., daß Arbeiter sich OTHON
eher ansehen werden als Intellektuelle, und daß die Arbeiter aus
diesem Film entscheidendes lernen werden.” Neudeck steht nicht allein da,
mit seiner Kritik. Der in Amsterdam wohnende linke Herausgeber der Zeitschrift
KUNST UND GESELLSCHAFT, mit dem ich 1969 korrespondierte, nannte in einem
Brief Straubs Filme “elitär”. Ich denke, daß in jenen Jahren
auch die kommunistischen Parteien in Westeuropa, die PCF, die PCI, die
DKP die Filme ignorierten oder offen ablehnten, weil ihre Kritiker einer
ganz anderen, populistischen, auf “Volkstümlichkeit” abonnierten “Ästhetik”
verpflichtet waren. Straub, links wie er stand, einer, der marxistische,
brechtische Filme machte, war “nicht ihr Ding” – und er hielt umgekehrt
so viel von der DDR wie Robert Kramer, der von ihr sagte: “diese Perversion
eines uralten Traums.” In einem Brief von Straub an mich stand diese Kritik
der italienischen Kommunistischen Partei: “Die PCI hat in Italien alles
verraten – außer der Bourgeoisie.” Das Verhältnis war also ein
zumindest gebrochenes. Wenn die Kritiker der KP-Zeitungen aber von Straub-Filmen
nichts hielten, so war es bei dem größten Blatt der westdeutschen
alternativen Linken nicht viel besser. Die Kritik der Filme Straub-Huillets
in der Berliner taz war unverfroren läppisch. Sahen auch sie
diese Filme als zu rigide, zu elitär, zu wenig “unterhaltsam” an?
Doch Neudeck sagt nicht: das ist elitär. Er verfälscht
Zitate, fürchte ich. Jean-Marie Straub und Danièle Huillet
dürften sich darüber sehr bewußt gewesen sein, und Jean-Marie
ist es gewiß immer noch, daß die vorherrschende Kultur eine
Sache der Herrschenden (oder wie man heute oft sagt, der sogenannten “Eliten”,
der “Gebildeten” usw.) ist. Daß also die an den Schalthebeln der
Macht Sitzenden die Unteren sehr wohl von bestimmten kulturellen “Hervorbringungen”
fernhalten. Ja, die Arbeiter, auch die Landarbeiter und die ihre Familienbetriebe
bewirtschaftenden kleinen Bauern sind getrennt von vielem, das für
sie wichtig sein könnte und das fällt in diese “Rubrik” Kultur.
Sie sind davon abgeschnitten, sei es nun durch Arbeitsbedingungen, Arbeitstempo,
Arbeitsverdichtung, lange Arbeitszeiten, was die Unteren häufig einfach
zu müde sein läßt, um einen in den 70er, 80er Jahren typischerweise
um 23 Uhr in einem Dritten Programm – und heute fast überhaupt nicht
mehr ! – gesendeten Straub-Film, oder auch den Film eines anderen wichtigen
Filmmachers zu sehen. Oder sie werden davon ferngehalten durch ein gut
plaziertes, intensiv beworbenes mediales Angebot (vor allem im Fernsehen),
das besteht aus einer endlosen Fülle sogenannter Unterhaltung, die
einzig und allein dem Zweck zu dienen scheint, die Menschen abzulenken
von den sie betreffenden wichtigen Angelegenheiten. Mit anderen Worten,
solche Unterhaltung, der “Entspannung” dienend (wie auch ihre “Konsumenten”
oft anzunehmen scheinen), dient auch dem Zweck, die Köpfe zuzumüllen.
Es war das Bewußtsein der Tatsache, daß die
“Bauern und Arbeiter” (paysans, ouvriers!) ferngehalten werden, durch die
Umstände, von Texten wie Kafkas Amerika-Roman, Brechts Die Geschäfte
des Herrn Julius Caesar, Corneilles Otho, das die
Straubs wohl motivierte, diese Texte – wortwörtlich, und eine Brechtsche
Sprech- und Darstellungsweise wählend – in Filmen, die sie machten,
zum Erklingen zu bringen.
Straub übrigens sagte vermutlich nie, was Neudeck
ihm in den Mund legt mit den Worten: ein Arbeiter werde eher in seine Filme
gehen als die Intellektuellen. Aber wenn Straub während einer
Diskussion im Anschluß an die Filmvorführung den Leuten im Publikum
sagte, “der letzte Bauer versteht das” und mitschwang, er versteht es eher
als ihr – ihr Cineasten, ihr Studierten, ihr Intellektuellen
ebenso –, dann kam darin Lebenserfahrung zum Ausdruck.
Es gibt kein spontanes Wissen der Unteren, und kein spontanes
Verstehen? Doch, das gibt es schon, aber man darf nicht erwarten, daß
diese Erfahrung massenhaft bestätigt wird – immer und überall.
Sie kommt in bestimmten historischen Situationen massenhaft zum Ausdruck.
Sie kommt auch unter besonderen individuellen Umständen im Leben von
Einzelnen zum Ausdruck.
Unter Bedingungen allerdings, denen eine medial enorm
starken und kontinuierlichen Beeinflussungen ausgesetzte “Masse” im heutigen
“Normalfall” unterworfen ist, schlummert viel an Wachheit, auch an
Potential,
zu verstehen und die Dinge neu und klarer zu sehen
– und dies nicht nur bei den “Unteren”! Diese letzteren aber sind sehr
konkreten, hartnäckigen und oft schmerzhaft empfundenen Widersprüchen
ausgesetzt – am stärksten wohl in der “Arbeitswelt”, vor allem in
der Fabrik – und gleichzeitig stärker als andere gesellschaftliche
Schichten und Klassen in kollektive Kommunikations-Prozesse involviert
(ganz deutlich in der Fabrik), sodaß hier in besonders starkem Maße
davon auszugehen ist, daß sich ein Widerspruchsgeist regen kann,
der möglicherweise auch zu neuen Praxisformen führt, aus denen
wiederum klarere Einsichten in die Verhältnisse resultieren können.
Solche klaren Einsichten sind aber längst bei einer Minderheit der
Unteren vorhanden – nicht nur in Ländern der sogenannten Dritten Welt
(Asien, Afrika, Lateinamerika), sondern auch in den “Metropolen”. Wer wache
Augen und einen wachen Verstand hat, begegnet ihnen immer wieder: den Arbeitern
und Bauern, mit wachem, klaren Verstand. Einem, der zu anderen Sichtweisen
und Erkenntnissen kommt als die mit den Verhältnissen, wie sie sind,
einverstandenen Privilegierten, einschließlich der vielen angepaßten
bürgerlichen Intellektuellen.
Ich denke, dieses Wissen schwingt mit bei Straub, und
das Wissen, das in dem Brecht-Text und in dem Corneille-Text – Texten,
die der jeweilige Film wörtlich, ungeändert transportiert
– Erkenntnisse enthalten sind, die den Unteren nützlich sein können.
Wenn sie sich ihnen öffnen. Wenn sie sich ihnen konfrontieren. Die
Filme Straub-Huillets versuchen, ihnen, den Arbeitern in Torino und dem
“letzten Bauern im bayerischen Wald”, das zu erschließen. Akzente
zu setzen, durch das gezeigte Geschehen, durch die visuell und akustisch
präsenten Situationen. Um so ein emanzipatives, tatsächliche
Emanzipation der Unteren beförderndes, auch ein materialistisches
Verständnis der den Filmen zugrundegelegten, in ihnen
hörbar gemachten Texte – und damit auch
der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche in den Filmen sichtbar
gemacht sind – vielleicht möglich werden zu lassen. Möglicher
jedenfalls als es die filmästhetischen “Interpretationen” von “Idealisten”
wie Neudeck je tun werden.
* *
*
Neudeck, der sich einsetzte für die vietnamesischen
Flüchtlinge, die nach der Niederlage der Saigoner Diktatoren-Cliquen
und ihrer US-amerikanischen patrons – oft aus gutem Grund
(aus Furcht, als Kollaborateure vor Gericht gestellt zu werden, oder weil
sie erhebliche Besitztümer verloren und einen neuen Start, möglichst
in den USA, wagen wollten) das Land in kaum seetüchtigen Booten verließen,
hat ein zwiespältiges Verhältnissen zu den Filmen von Straub-Huillet.
Das geht aus seinen Worten deutlich hervor. Wie er schreibt, las er das
übersetzte Buch, Corneilles Otho, kurz nachdem es 1974
in New York erschien, “mit ähnlich gespaltenem Kopf” wie den von ihm
zum Zeitpunkt, da er die Rezension schrieb, schon gesehenen “dazugehörigen
Film”. Er sagt: “Eine unendliche Schönheit breitet sich im Film von
Einstellung zu Einstellung aus, höchste ästhetische Befriedigung
und Lust vermögen Text wie Film zu bereiten.” Dennoch: er lehnt etwas
daran – weil “Unsägliches mit ihnen transportiert werden
soll” – ab.
Doch was ist das, was nicht gesagt werden kann – oder
nicht gesagt werden darf, was unsagbar bleiben soll und mit
dem verqueren Jargon-Wort “Unsägliches” ausgedrückt wird?
Es ist im konkreten Fall, wie Neudeck bekundet, genau dies, daß Jean-Marie
Straub schon 1971 in einem Interview in der Zeitschrift “Film und Fernsehen”
(No. 10/71) sagte, was heute selbst im San Francisco, Vancouver,
Chicago und New York, in Barcelon, Athen, Paris und London die Spatzen
von den Dächern pfeifen: “Die bürgerliche Politik in unseren
bürgerlichen Demokratien wird weiter von einer Minderheit gemacht,
die über das Schicksal von 99 % des Volkes entscheiden.” We
are the ninety-nine percent, they are the tiny minority.
Ja – das löste eine Sperre in Neudeck, dem Rezensenten,
aber wohl nicht nur in ihm aus. Es führte dazu, daß das Werk
der beiden Filmmacher einen Neudeck “nicht voll befriedigen” kann.
Nicht Othon, und wohl auch nicht Geschichtsunterricht
oder
die anderen Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Man
sollte sie wohl nicht mit öffentlichem Geld fördern, scheint
auch bei Neudeck mitzuschwingen. Sollte man sie vielleicht sogar verbieten?
Für Neudeck ist das Politische – oder sollte ich
nicht besser sagen, das Brechtisch-Materialistische – dieser Filme nichts
als ein unsäglicher Teil derselben; er spricht von “lauten Tönen”.
Und sie stören sein auf pure ästhetische Rezeption geeichtes
Wahrnehmungsbegehren. Also holt Neudeck einen Satz aus einem
Interview des alten Adorno ans Licht, dieser “schäme sich nicht,
öffentlich zu sagen, daß er an einer Ästhetik arbeite.”
Sieht Neudeck das als die autorisierende Bestätigung seines Wunsches,
rein ästhetisch zu rezipieren – unter Ausklammerung nicht nur des
Elends in der Welt, sondern auch jedes Versuchs, zu erkennen, was dieses
Elend produziert, in sich wandelnden Zusammenhängen, neuen Formen
zwar, doch immer wieder einbeschrieben in Klassenverhältnisse und
unter Bedingungen der Klassenherrschaft? Die Privilegierten (zu denen –
wenn auch recht bescheiden – auch Neudeck zählt) brauchen die Schönheit
der Welt, wie sie vor ihren Augen in der Landschaft, in der Architektur,
der Plastik, Malerei, graphischen Kunst, in der Musik, im Film, auf der
Bühne des Theaters und überhaupt in der Literatur erscheint,
um die Augen vor dem Leid der Anderen zu verschließen. Oder,
falls sie die Augen ein wenig – im Sinne “lindernder Barmherzigkeit” und
entlastender “Mildtätigkeit” – öffnen, zur Kompensation. Für
einen Reichen ist selbst ein anderer Mensch, etwa eine “schöne Frau”,
nur eine weitere “Bereicherung”. Die Privilegierten fordern den “reinen
Genuß” ohne störende Impulse, die ihr Denken, ihre Gefühle,
ihr Gewissen beunruhigen und dazu auffordern, an den ungleichen, unfreien
(Klassen-) Verhältnissen etwas zu ändern, um der liberégalité
(wie
Balibar sie nennt) willen. Das ist der Kern der Sache, und das, was reines
ästhetisches Genießen, was alle Kultur bisher (als Kultur der
Herrschenden), was die reine Schönheit, verstanden als Ideal und Ziel
der AISTHESIS, also Wahrnehmung, so verdächtig macht. Und was uns
nach einer anderen Ästhetik verlangen läßt, einer, in der
die Schönheit zugleich die Klarheit des Denkens und die Schönheit
der praktischen Widerstands ist, der sich den herrschenden Verhältnissen
entgegenstellt, mit ihnen bricht und dem Neuen zum Durchbruch verhilft:
auch dem Anbruch der Geschichte, nach einer “Vorgeschichte” der Bitternis
und häufig, der Barbarei.
Jean-Marie Straub rekurrierte, ohne die chinesischen Verhältnisse
im einzelnen zu kennen und ohne ihre Widersprüchlichkeit aus den Augen
zu verlieren, in dem von Neudeck rezipierten, 1971 gegebenen Interview
auch auf die chinesische Kulturrevolution. War sie nicht auch eine
Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe, mit den von den Herrschenden
und ihrer Intelligensia kanonisierten Texten und ihrer Interpretation,
ihren “Werten”, die schon in der 4. Mai-Bewegung 1919 einsetzte
und die das ganze Schaffen von Ai Qing, Ba Jin, Guo Muruo, Lu Xun usw.
prägte? Sodaß also die kulturpolitischen Ziele – im Unterschied
zu den tagespolitischen (die parteiinterne Auseinandersetzungen um “Richtungen”
betreffenden) – dieser versuchten Kulturrevolution im wesentlichen
nur ein Neuaufleben bereits formulierter, aber noch nicht hinreichend gelöster
Fragen darstellten...
Ob diese Fragen im China der 60er Jahre so reflektiert
– und dialektisch – angegangen wurden wie bei Lu Xun, muß man bezweifeln.
Im Fall der sogenannten roten Garden (also der leicht manipulierbaren,
ohne Gespür für die Geschichte und ihre Widersprüche an
die Dinge herangehenden jungen Leute) muß man es ganz besonders bezweifeln.
Der Kern dieser Fragen nach der Tradition aber, also nach dem Stellenwert
und der Rezeption der kulturellen Hervorbringungen der Vergangenheit, die
unter den damals herrschenden Verhältnissen (meist nicht gegen sie)
entstanden – läßt er sich vielleicht so formulieren: Wie unschuldig
ist die Ästhetik der Werke, die den Herrschenden Vergnügen bereiteten,
in einer barbarischen Welt, das heißt auch, einer durch Klassenverhältnisse
geprägten Welt, welche die Beherrschten von der Rezeption “hoher Kunst”
ausschloß und weitgehend noch immer de facto ausschließt? Und
wie widerspruchsvoll konnten manche dieser Werke trotz allem sein, indem
sie – die den Oberen Genuß bereiteten – die Sehnsucht ihrer Schöpfer
nach ganz anderen Verhältnissen enthielten und so auch wachhielten
in Menschen vieler Zeitalter, wie sie diese ja selbst in uns wachhalten
können, die wir Fragen stellen nach der Weise, wie wir ihr gerecht
werden: der Kultur der “Vorgeschichte”.
Brecht plädierte, halb tongue in cheek vielleicht,
also die Sehnsucht nach den Dingen einer angeblich guten alten Zeit ironisierend,
und gleichzeitig sehr bewußt eingedenk der Schrecken, die auch das
aufbrechende Neue mit sich bringen konnte, für das “schlechte
Neue” und gegen das “gute Alte”. Doch auch er reaktualisierte alte Texte.
Er schrieb um und integrierte, was ihm brauchbar schien: selbst Shakespeare.
Kannte und bezog sich wiederholt auf das Werk vergangener Autoren. Darin
haben es ihm Jean-Marie und Danièle gleichgetan, auf ihre Art: in
der Hinwendung zu Kafka, zu Brecht, Böll, zu Corneille, zu Cezanne...
Man kann sie nicht eines undialektischen Verhältnisses zu wichtigen,
emanzipationsfördernden Werken der Vergangenheit zeihen, auch wenn
ihnen – aus gutem Grund – das Verhältnis der Bildungsbürger und
bürgerlichen Intellektuellen zur “Kultur” verdächtig ist.
- Andreas Weiland
*
In der Tat, es gibt Seltsamkeiten, betrachtet man Entscheidungen der Justiz
in Deutschland: Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von VW wurde verurteilt,
wegen passiver Korruption, der aktiv (als Strohmann, muß man deuten,
eines interessierten Eigentümers) bestechende Top-Manager von VW kam
fast mit einem blauen Auge davon; der tonangebende, immer wieder in die
Geschäftspolitik des Unternehmens intervenierende VW-Aktienbesitzer,
ein Milliardär, dessen Interesse an der durch Bestechung erstrebten
Kooptation des “Arbeitervertreters” nicht zu bezweifeln ist, darf sich
sicher fühlen. Ähnlich im Fall eines englischen Milliardärs,
dessen aktive Bestechung unter den Tisch fällt, während der passiv
bestochende bayerische Bankmanager verurteilt wird, da er ja das Geld annahm
(von wem eigentlich?). Hier geht es nicht um Große und Kleine, sondern
um Große und ihre weniger großen Zuarbeiter, aber es sind typischerweise
die "weniger Großen", die Zuarbeiter, die härter angepackt werden
als jene "Großen", von denen doch anscheinend die Bestechungsdelikte
ausgehen, oder die zumindest die eigentlichen Profiteure der Straftaten
sind.
Die Kleinen, davon können wir reden,
wenn eine mittellose achtzigjährige, gehbehinderte Rentnerin
wegen mehrfachen Schwarzfahrens mit dem Bus oder der Schwebebahn und Unfähigkeit,
eine Strafe zu zahlen, zu Gefängnis verurteilt wird; sie soll
"sitzen", vielleicht fast so lang wie jener den großen Münchener
Fußballverein managende Wurstfabrikant, der mit einer lächerlichen
Gefängnisstrafe davon kommt, obwohl er – sagen wir mal – 28 Millionen
an Steuern “hinterzog”. Steueranwälte lernen, daß für
jede Million hinterzogener Steuern ein Jahr Gefängnis in Deutschland
fällig wird. Wenn es dann zwei, drei, vier Jahre sind, die der Mann
bekommt für – sagen wir – 28 Millionen, ist das der Prominenten-Bonus?
Kommen da politische Beziehungen ins Spiel? Der Volksmund bringt alles
besser auf den Punkt. Die Details, jetzt, nebensächlich; vielleicht
führen sie auch in die Irre.
Geschichtsunterricht
1972, Italie-Allemagne Fédérale, 85 min
; 16 mm, couleur, format 1/1,33.
tiré du fragment de roman: DIE GESCHÄFTE DES HERRN JULIUS
CAESAR de Bertolt Brecht.
GESCHICHTSUNTERRICHT ;
film de Jean-Marie Straub et Danièle Huillet ; Renato Berta,
Emilio Bestetti
– image ; Jeti Grigioni
– son ; Leo Mingrone, Sebastian Schadhauser, Benedikt Zulauf
– assistants.
Gottfried Bold, le banquier ;
Johann Unterpertinger, le paysan ;
Henri Ludwigg, l’avocat ;
Carl Vaillant, l’écrivain ;
Benedikt Zulauf, le jeune homme ;
Couleurs de Luciano Vittori.
Musique : Johann Sebastian Bach (extrait de la Matthäus-Passion
BWV 244).
– Découpage, montage : Straub-Huillet.
– Tournage : trois semaines, à RomeFrascati, Terenten (Alto-Aldige),
sur l’île d’Elbe, juin-juillet 1972.
– Matériel : une Éclair-Coutant, quatre objectifs, un
zoom et un Nagra. Négative Eastman 7254 (7 560 m). Longueur finale
: 961 m.
– Coût : 65 000 DM.
– Sous-titrage : en français (Danièle Huillet) ; en italien
avec Adriano Aprà, Leo et Gianna Mingrone ; en anglais avec Misha
Donat ; en hollandais avec Frans van de Staak (1972).
– Première présentation : séance privée,
Mannheim, Filmwoche, 10 oct. 1972.
– Premières diffusions télévisées : 20
mai 1974 (ARD), 16 mai 1976 (HR III).
Les Yeux ne veulent pas en tout temps se fermer ou Peut-être
qu'un jour Rome se permettra de choisir à son tour (Othon)
[The Eyes Do Not Want to Be Closed or Perhaps Rome Will Permit Itself
Finally to Choose (Othon)]
1969 Italie/France, 88' ; 16 mm (gonflé
par la suite en 35 mm), couleur, format 1/1,37, son mono.
D'après Othon de Pierre Corneille.
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