This is the second text I wrote after seeing "Klassenverhältnisse" in Hamburg. I had just started to work in Aachen a year and half ago. And at the time I received the invitation sent by Jean-Marie Straub to come to Hamburg where they would show their new film, Christine and Germain Kattie had asked me whether Germain's eldest, Césaire, could stay at my place for a week or two. So I bought two tickets, for the kid and me, and we took the train to Hamburg. It was the first film by Danièle and Jean-Marie that my guest ever saw, and in a language he could not understand. But as kids do, he watched openly, curiously. I want to dedicate this article to him who died, much too young, in a traffic accident in Côte d'Ivoire. 
- AW
 
 
 
 

''Klassenverhältnisse''
REFLEXIONEN ÜBER EINEN FILM VON DANIÈLE HUILLET UND JEAN-MARIE STRAUB

1

Die Statue, zu Beginn des Films: an ihr vorbei - dem trotzigen, kleinen Mann mit gefesselten Händen - geht der Blick der Kamera auf die Fassade des Hauses dahinter. Herrschaftsarchitektur. Erinnerung an 'Pfeffersäcke', die Hegemonie des Handelskapitals dieser Stadt - seine brutale, selbstbewußte Geschichte. Ein versteinertes Stück Erinnerung an Klassenkämpfe erscheint, in dieser Konfrontation des Störtebecker-Denkmals mit der hanseatischen Architektur einer vergangenen Ära.

Wenn dann, mit einem Mal, die Freiheitsstatue auftaucht, haben wir vielleicht viertausend Kilometer zurückgelegt. Hinter uns der Atlantik, der die Neue von der Alten Welt trennt.

Die Statue - so anders, in der Weite des Hafens, den sie überschaut.

Von außerhalb des Bilds, aus dem off, kommt die Stimme. "Es ist ja offen", sagt sie zu Karl Roßmann, der im Türrahmen sichtbar wird. Der Blick fällt auf die winzige Kabine, begreift ihre Enge.
Es ist die Begegnung Karls mit dem Schiffsheizer, der sich so gut ausdrücken kann, wenn er Karl von dem Unrecht, das ihm widerfuhr, erzählt. Wie die Bergarbeiter, während des Streiks in Norwegen, vor einigen Jahren, denke ich: die so klar im Fernsehen sagen konnten, was sie bewegt. Eine gänzlich unerwartete Erfahrung, nach allem bisherigen.

Im Schiffsbüro, wo Karl seinem Onkel, dem Senator Jakob, überraschend begegnen wird, hier, zwischen Mahagoni-Tischen und Offizieren in Uniform, kriegt der Schiffsheizer später keinen sinnvollen Satz mehr 'raus; sei es, daß man ihn mit Worten überfällt, oder daß er in der neuen Situation verwirrt ist. "Du mußt dich aber zur Wehr setzen", wird ihm Karl noch nachrufen, bevor er das Schiff verläßt: diese Interieurs, ihre charakteristische Verschiedenheit.
 

2

Die nächste Einstellung. Die hohen Fassaden der Speicherhäuser. Vornehmes 19. Jahrhundert. Das ist wirklich - trotz allem 'Hamburg' der Fleete - New York, die merkantile Metropole, in der ein Senator Jakob wie der Kafkas und dieses Films von Straub und Huillet seinen Platz fand. Die Fleete! Der Himmel weitet sich, im Rhythmus ihres Erscheinens. Und verengt sich wieder, und weitet sich. Bis das Abbrechen kommt - die große, endlose Weite, wo du dich 'freischwimmen' mußt.

Denn dem Rhythmus der Öffnungen mit jedem Fleet folgt die riesige Öffnung: riesig wie das Meer, der  Transportweg. Der vor allem Meer ist, und nicht: Transportweg.

Dann plötzlich, dieses klare Gefühl für ein Abstoppen, der Sequenz. Und ein erneut Ansetzen. Ein schwingendes Gefühl, ein Rhythmus, schön wie die Körpermotorik, der du bewußt wirst, etwa beim Laufen. Nur das hier das Denken seine äquivalenten Haltepunkte und Beschleunigungen erfährt. Wenn der Schnitt kommt, der Wechsel in der Perspektive. Wenn der Onkel (Senator Jakob) und Karl (mit dem Hut auf dem Kopf: ein äußerlich, das heißt, gesellschaftlich, anderer Karl als vorher) ins Bild kommen; an der Kamera vorbei gehen. Die Diagonale des Kais im Bild. Dahinter das wellenbewegte Wasser, das bleibt, als die Schritte schon im off verklingen; beide, aus dem Bild, verschwunden sind. Während die Einstellung noch festgehalten wird, Zeit gibt, zum Nachdenken: eine Ruhepause - wie das Weiß auf der Leinwand östlicher Meister, oder die Stille, in musikalischen Kompositionen. 
Dann, das Abbrechen.

Für mich sind es übrigens am meisten die Schnitte, die mich ins 'Schwingen' bringen. Dann, die Diagonalen, die ein Bild zerteilen, Raum schaffen, und die Licht-und-Schatten-Verteilung, mit ihren Flächen, Achsen und Körpern, welche mir am ehesten als Äquivalent erscheinen (um im oben benutzten Bild zu bleiben) der kraftvollen Pinselstriche auf der weißen Fläche der Leinwand. Äquivalent ihrer Dynamik, ihres Rhythmus. Wie der schwarze Farbfluß sind sie die materielle Spur eines Prozesses, der Dynamik und Rhythmik ist. Dynamik des Denkens, das sich über die Formen vermittelt: über Relationen und Strukturen. Rhythmik, der materiellen Realisation, die in den Formen, ihren Relationen, den Strukturen sich verwirklichen muß.
 

Ich weiß, ich strukturiere, was ich sagen möchte, schlecht.
Im Gegensatz zu dem so klar strukturierten Film. Ich gehe aus von dem, was in mir an libidinöser Energie (Hoffnung, Freiheitswunsch, Widerstandswillen) freigesetzt worden ist - durch den Film. Ich bin erregt, und unruhig zugleich.
 

4

Das Labyrinthartige: In dem Film wird es versinnlicht durch die Korridore - die engen, nüchternen Gänge, durch die die Kamera den Figuren folgt. Und es wird versinnlicht durch die labyrinthartigen Verbindungen (ihre 'Logik des Kapitalismus'), die sich an Gegenständen festmachen: dem Brief, der ihn, Karl, aus dem Büro des Onkels im (relativ fernen) Landhaus erreicht; der Mütze, die schon auftaucht, bevor Karl den Brief erhält, der ihm sagen wird, wozu er die Mütze braucht - sie und nicht den Hut. Während gleichzeitig der Hut schon, bevor er die Mütze erhält, verschwunden ist: die Mütze ist ja symbolhaft; sie ist die Arbeitermütze noch in der Zeit zwischen den letzten Weltkriegen. Und jemand wie Karl, jemand, der sich für einen Schiffsheizer einsetzt als Neffe des 'großen' Senators Jakob, jemand der sich fragt, ob er an ihm, dem Heizer, nicht mehr hatte (in wenigen Minuten oder Stunden?) als er an dem so reichen Onkel je haben würde, MUSS fallen.  Da hat es keinen Sinn, von unergründbaren Geheimnissen zu schwätzen und im Stil der Taschenspieler-Philosophen zu fragen, was denn 'hinter dem Tor' sei, das irgendein Torhüter bewacht. Bei Kafka ist im Gegenteil das Erfrischende, wie VIEL offen liegt (auch in Texten wie Die Strafkolonie  oder Im Bergwerk) für die, die Augen haben zu sehen - und sehen wollen, sehen wollen können. Denn die Sache mit dem Tor ist ja gerade (und das ist zugleich das 'Unsichtbare' daran, jenseits der Oberfläche - nur mitschwingend als Tonder Trauer), daß die vielen, die Kafka auch kannte, die bei der bürokratischen Versicherungsgesellschaft, für die er arbeitete, wie man so scheiß-unterwürfig sagt, 'ihr Recht suchten', es nicht forderten, nach anderen Regeln als denen eines bürokratischen Rechts, welches ihnen, so oder so, keine Chance läßt - keine Chance, nicht behandelt zu werden wie eine Ware... Die Sache, von der die Rede ist, ist also, daß jene nicht fordern, statt behandelt zu werden, endlich leben zu können: als Menschen - gemeinsam und solidarisch mit anderen Menschen. Die OBERFLÄCHE, das Sichtbare, ist, daß sie warten: geduldig, in der Schlange, vor dem Schreibtisch des Bürokraten - wie die Frauen, am Anfang,  in jenem Film Kurosawas, wo hinter dem Papierstoß unter anderem auch der lungenkranke, aber davon noch nichts ahnende Watanabe sitzt (in Kurosawas 'Ikiru' / Einmal wirklich leben). Es ist eben dies: daß sie warten, statt die Verbotsschilder umzustoßen, die Bürokraten nach Hause zu jagen, die Papiere - soweit sie überflüssig sind - zu recycled paper zu verarbeiten. Dieses Geheimnis des Wartens: es ist ja enthüllbar, ist enthüllt bei Kafka wie auch im Film, ist nichts als die Unterwürfigkeit der Opfer, die ihre eigene Geschichte als eine Geschichte von Niederlagen mit sich herumtragen (halb Vergessenes, aber immer noch wirksam). Und die darum erst zur Kenntnis dieser Geschichte ihrer Niederlagen und des Warums der Niederlagen gelangen müssen, um sich von den Folgen zu befreien. Um stark zu werden, um zu siegen im Kampf um Befreiung; stark genug, um nach der Befreiung die Schreibtische und Datenbanken nicht anderen (oder gar denselben!) Bürokraten zu überlassen - und die Stelle der Manager nicht neuen Managern, die Aneignung des Surplus, die Verfügungsgewalt über ein Surplus, nicht neuen Kapitalisten... 
Das Geheimnis des Wartens ist allerdings nur für die Verräter und Profiteure nie zu lüften. Für alle anderen ist es lüftbar. Denen kann es wie Schuppen von den Augen fallen. Und das passiert auch - glaub' ich schon.
 

Der Augenblick der 'Unschuld' (der Shen-Te-Moment), als Moment einer Klassenwirklichkeit - und nicht Moment einer aufgesetzten Metaphysik von Intellektuellen: denn danach hört sich nur der Scheißbegriff 'Moment der Unschuld' als 5th Avenue Begriff vom Typ 'Moment der Wahrheit' an?) ist der jener Sekunde, als Karl - und die Köchin tut's auch - lächelt. Der allererste Moment. Danach arbeiten schon die Gedanken, in beiden. Nichts gegen dies - das Denken. Aber es bringt die Vorbehalte, die Hintergedanken, unter den Bedingungen der Klassengesellschaft (in der die sich Begegnenden situiert sind) ins Bewußtsein. Und das schafft das schlechte Gewissen als Wissen um die eigene 'schmutzige', widersprüchliche Seinsweise, da man in einer 'schmutzigen' Welt nicht 'rein' bleiben kann, ohne zum 'Terroristen' zu werden. Zum RADIKALEN, wie Moses in Moses und Aaron. Dessen radikaler WIDERSPRUCH von den Terroristen in den Positionen der Macht, kaltblütigen Verteidigern einer schlechten Ordnung voll hundertmillionenfachem Hunger, voll Atombombern in der Luft, Raketen in den Silos, voll Verzweifelten und Hoffnungslosen, denen man keine Chance läßt, nur als "terroristisch" empfunden werden kann. 

Auch Karl - der reinste, vielleicht, in der Realität, die Kafkas Text und, im Anschluß daran, der Film produziert - auch Karl lebt in einer wiedergewonnenen, erkämpften, nicht bruchlosen Reinheit. Denn: egal, wie sehr du Opfer bist - irgendwann machen dich die Umstände zu jemandem, der, wider Willen, jemanden als Opfer zurückläßt. Unschuldig an den Verhältnissen wirst du, wurde auch Karl, schuldig. Weil es etwas 'Anderes', einen Unschuldigeren gab, an dem du schuldig wurdest, an dem er schuldig ward. Und sei es, daß  jenes 'Andere', Unschuldigere, dann das in jener Frau ist, die von Karl ein Kind hat und die nun mit dem Kind zurückbleibt. Und sei es, daß es jenes 'Andere' in ihr ist, das den Brief schreibt, einen Brief der Liebe, nicht der Ausbeutung (sexuell, emotional, und so weiter). Mithin einen 'reinen' Brief, der seine Wirkung ('wider alle Wahrscheinlichkeit', so will es Kafka) einer 'Logik des Hungers nach einer anderen Weltordnung', der existierenden, chaotischen, schlimmen Weltordnung entgegengesetzt, verdankt...
 

Die ("Ober"-) Köchin - als sie Karl sieht, und er sie; und dann, der Rückzug Karls: Ich habe gedacht - unterhalb des 'Denkens', vielleicht noch - daß es etwas gibt, bei Kafka, auch in 'Amerika', das jemand, der sich auf das Thema 'Frauenfeindlichkeit in der Literatur von Männern' eingestellt hat, genau so,  als Frauenfeindlichkeit, wahrnehmen wird. Die Köchin, vor der Karl zurückweicht, als nähme er, in einem 'zweiten' Moment, eine nicht-altruistische, eine ausbeuterische (zum Beispiel unbewußt vorhandene) 'Motivation' an ihr wahr, sodaß er erschrickt, sie, diese Köchin, erschrickt auch. Sie erschrickt. Doch wovor?  Vor seiner (oder ihrer?) für einen Moment 'existiert habenden' Offenheit? 

Ich glaube, dieses Zurückweichen denunziert weder Karl noch die Köchin. Und diese erst recht nicht als Frau. Denn: das Moment des Nicht-Altruistischen - all das, was nicht (als Liebe zu sich und zu Anderen-wie-zu-sich-selbst) die plötzliche Einheit, und Offenheit, und Unschuld herstellt, sondern die Trennung,  es ist in den 'Anderen', auch den Arbeitern, auch der (Ober-)Köchin, als Moment ihres Existierens in einer Ausbeutergesellschaft; einer Gesellschaft, in der es, immer wieder, heißt, 'auf der Hut zu sein'. Es betrifft also die (Ober-)Köchin nicht als Frau, sondern als Mensch der Arbeiterklasse, die Kafka nicht idealisiert, als Mensch, der lebt unter Bedingungen der Entfremdung, in einer kapitalistischen Klassengesellschaft.

Das Persönliche, die Schwierigkeit, die Kafka - vielleicht weil er mehr liebte als andere - hatte damit, zu lieben und geliebt zu werden nicht nur mit der Energie und Intensität der Worte (der gesprochenen und jener der Bücher), oder seines traurigen Blicks, den wir von Photos kennen, sondern auch Körper an Körper: ich wage nicht, mehr darüber zu sagen, weil ich das, was Straub in Hamburg die Beziehung zu dem vielleicht wichtigsten (für ihn, Kafka) Menschen genannt hat, den dieser kannte, die zu Milena, nicht kaputt reden will. Das scheint durch, als etwas wie eine condition universelle des Kapitalismus und der Menschen, die lieben im Kapitalismus (das heißt, mehr oder weniger, aller Menschen, heute, in dieser Gesellschaft), daß die Liebe, immer wieder, das Verstehen und Mißverstehen ist. Die Nähe, und das Fremde. Die Spannung zwischen Sich Öffnen und Sich Versagen. Und das wird deutlich, in den Texten, die Kafka schreibt, wird deutlich im Film. So auch Karl: Karl, der sich immer wieder auf sich zurückzieht. Aber - denken wir zurück, an die Landhaus-Sequenz:  Die junge Frau (jenes "gnädige Fräulein" einer wilhelminisch-amerikanischen Mischwelt und ihrer 'Oberklasse'), jenes Wesen also, das ihn offenbar 'konsumieren' will wie man im Kapitalismus konsumiert, die ihn also in ihr Zimmer bittet 'um auf dem Piano vorzuspielen' (was - erkennbar - nur vorgeschoben ist), diese Frau ist nicht einfach die potentielle Verführerin einer damit einfach verdoppelten Verführungsszene. Es ist nicht eine 'Urszene', vor der Karl Angst hat. Es gibt keine Urszene, in dem Sinne. Oder, wenn es sie gibt, in der individuellen Figur der von Kafka entworfenen, fiktiven Figur "Karl", so ist das nicht das Entscheidende. Die Differenz ist das, was alle Bedeutung für uns enthält: die Differenz zu eben der rein sexuell konnotierten Urszene, die darin besteht, daß diese junge Frau das weibliche Ebenbild ist der Rechner und Berechner, zu denen Karls Onkel, der Senator Jakob, ebenso gehört wie der Vater der jungen Frau. Oder ihr Verlobter, den Karl im Nebenzimmer im Bett liegend antrifft. Oder der junge Mann, der ihm den Brief überreicht... Es ist eine Klassenfrage, etwas Klassenspezifisches - und die verschlungenen Wege dieser Berechner, die immer wieder zu (unvorhersehbaren) Resultaten führen, sind das Labyrinth (als Gesetzmäßigkeitsmetapher) des chaotischen Kapitalismus. Sie sind seine Ordnung. Dies ist mir durch den Film wiederum - und diesmal sinnlich - klar geworden, gegen die Metaphysiker unter den Interpreten Kafkas.
 

Die Momente des Umschlagens von Shui-Da in Shen-Te: Ich versuche, die ERFAHRUNG, die man in dem Moment des Erfahrens - in der Wirklichkeit wie im Film - erkennt/spürt/liebt, in Worte zu fassen...

Eigentlich müßte man auch das Gegenteilige, das Umschlagen, erfassen, das sich markiert in den Worten: gerechte Sachverhalte hätten auch ihr entsprechendes Aussehen. Als die Worte, gerichtet gegen Karl, ausgesprochen werden, ist es jener Moment der größten Distanz, der dem Moment der Nähe - als dem anderen Pol - geradezu dialektisch entspricht.

Dazwischen liegt für mich die ganze Bandbreite der Widersprüchlichkeiten. Die Frage etwa, die für mich einen Moment lang im Raum stand: Hat der kleine italienische Liftboy, der die harte Arbeit (das sagte sie, die [Ober-]Köchin!) kaum schaffen konnte, durch das Mitgefühl dieser Köchin - eine plötzliche 'Öffnung' des 'Panzers' gegenüber Karl - seinen Job verloren? 
Oder auch die vergleichbare Frage: Welche unausgesprochenen, klassenintern wirksamen (internalisierten) hierarchischen Beziehungen sind die strukturierenden Interferenzelemente im Beziehungsdreieck Köchin - Karl - Therese (bzw. Köchin - Therese - Karl, usw.)?
 

Ich mache Umwege, und dieses hier ist eine Art der Annäherung über Umwege, ein Hin und Her, weil alles in den Details enthalten ist. Und weil in den konkreten Situation (mithin in 'Details') gleichzeitig mehr als 'alles' (als das Allgemeine, das Verallgemeinerbare) ist - und weniger; aber jedenfalls etwas, ohne das wir nicht wissen würden, was das "Alles" des Kapitalismus konkret ist. So wie wir auch, ohne daß wir wissen, was der Kapitalismus (als System, Struktur, Prozeß, 'Logik') ist, nicht die 'Details' verstehen.

Ich denke daran, wie die Besonderheit der Situationen ihre Wahrheit ist: Nicht Karls Angst - weniger vor der Sexualität als vor der Sexualität im Kapitalismus, als Moment höchster Ausbeutung und höchsten Schutzlosseins des Ausgebeuteten, der liebt ohne berechnend zu sein, also LIEBT -: nicht Karls Angst, das will ich sagen, vor dem Gemeinsamen in den Begegnungen mit dem jungen Fräulein auf dem Landsitz, mit der Köchin, mit Therese... ist die Wahrheit. Sondern die Differenz der Situationen, der Begegnungen. Karl deckt sich zu, bevor Therese in 'sein' Zimmer tritt; er hat ihr eindeutig zu verstehen gegeben, daß es eine Angst gibt, scheint es. Aber im Grunde hat er eine Situation geschaffen, in der kein Raum bleibt für Zweifel und Verführungen. Wo eine Komplizität entstehen kann, die die der Geschichte ist, die Therese, am Fenster stehend und weit (durch das Milchglas?) ins Nichts, in die Leere und Trauer der Erinnerung hinausschauend, erzählt. Eine Vereinigung, die so intensiv ist (womit ich nicht etwa, gleichsam als ein 'Platonischer', etwas gegen's Zusammenschlafen sagen will), als ob sie miteinander, als LIEBENDE, geschlafen hätten. Sie sind sich jetzt, als Kinder einer Gesellschaft, in der sie unnötigen Schmerz und unnötige Trauer ertragen mußte, nah. Und, ja, es gibt wahrscheinlich Situationen, da entfernt Zusammen-Schlafen eher von einander als daß es zwei Menschen einander näherbringt. Ist es nicht ein oberflächlicher, falscher Materialismus, der das Gegenteil für automatisch gesichert annimmt? Und stimmt es, daß nichts so unerotisch ist wie die käufliche 'Liebe' der offiziellen Prostitution im Kapitalismus, von der die Ehe oft die hervorstechendste Variante ist, von der manch andere Formen der 'Liebe' vielleicht aber kaum unterschieden sind?

Therese, das Licht auf ihr, die Schatten, die Backenknochen, Nase, Augenhöhlen - das Plastisch-Werden, Gestalt-Annehmen des Gesichts. Wir sehen das: DAS LICHT AUF IHR, WÄHREND SIE ERZÄHLT... Eine strenge Schönheit - eine Art Apotheose (ich verstehe den Sinn des Wortes nicht einmal genau), DIE NICHT VERSÖHNT, dann, andererseits, den Schmerz, in dem Moment, in dem er erzählt ist, AUFHEBT in eine KLARERE RUHE und GRÖSSERE BEWUSSTHEIT - etwas, das nicht mehr zerfressen wird. Das sehen wir. Diese strenge Schönheit, diese leidende Schönheit des Körpers, der die Seele ist, von Therese. Eine von der Darstellerin produzierte. Von ihr und denen, die dazu beitrugen durch ihre Arbeit (nicht nur an der Frisur). 

Nein, die Schönheit von Therese - das ist eine ganz andere, traurigere Geschichte: auch die des unschuldig (wenn man je unschuldig ist) Schuldig-Werdens des Mädchens. Das in jenem Moment des Versagens - wie die Mutter - erschöpft war. Das, in diesem einen Moment, die Mutter vorgehen ließ. Man weiß nie vorher, was kommt, aber man 'zahlt' (schlechte Metapher!) vor seinem Gewissen den Preis dieser Schuld doch, die eine verzeihbare, eine ohne irrevokable Konsequenz wäre, wenn Thereses Mutter, wer weiß, nicht hätte sterben wollen? Jemanden in der Sekunde seiner Schwäche nicht gehalten zu haben heißt (auch wenn man ihn auf seine - 'auch-egoistische' - Art liebte), in der entscheidenden Sekunde mehr bei sich als bei dem Anderen gewesen zu sein.  Scheiße. Das kippst du, in der Rückschau, nie wieder um - : nur im Blick nach vorn. Und das ist es, was Therese in dem Moment tut, als sie zu Karl - einem anderen ausgebeuteten 'Henker-Opfer' (der das NICHT VERDRÄNGT) - spricht, in einer Situation der Klassensolidarität, einer natürlich-spontanen, wie es sie WIRKLICH, immer wieder, gibt, jenseits aller Parolen.  Sie befreit sich in diesem Augenblick von der lastenden Vergangenheit, indem sie sich die Last, die Vergangenheit, noch einmal aneignet - objektiv: gegenüber dem, der zuzuhören versteht. Sie befreit sich - auch wenn sie im übernächsten Moment, als Karl entlassen wird, als die Oberköchin nichts von der Differenz gesellschaftlichen Scheins und gesellschaftlicher Realität wissen kann (oder will), schweigt.
 

Robinson im Auto, der arme Schlawiner, der durchtriebene: Bei aller Durchtriebenheit (denn der weiß, was 'Knete' ihm bedeutet) ist er blind, ist pragmatisch, ist angepaßt genug.  Und ist zugleich - als er schlau und traurig zugleich lächelt und irgendwie das Vertrauen in Karls Güte hat, daß der ihm schon helfen wird, zerschlagen und mit zerrissener Hose und ohne Fahrgeld, wie er ist - Karl, und dir und mir und uns näher als irgendein Senator Jakob oder Helmut Schmidt: ein subjektiv Gradliniger von der 'anderen Seite', der doch, bei aller Würde der Oberfläche, so verschlungene Wege kennt, um seinen Brief ans Ziel zu bringen (um Mitternacht). 
 

10

Wie ein Aufbruch / war das: die Fahrt am Fluß, parallel zum Fluß, wo immer wieder zwischen den Büschen der Blick freigegeben wird, auf den Spiegel: das Wasser (Bewegung, Licht).  AUSBLICKE. Diese Hoffnung ! Oder etwas von der Weite des 'Westens': die ganzen Hoffnungen, mit denen Menschen im 19. Jahrhundert aufgebrochen sind, & in diesem Jahrhundert immer noch aufbrechen. Das ist auch in Kafkas Roman. Die Hoffnungen - demokratische Hoffnungen! - der Arbeiter und Landarbeiter aus der alten Welt, die Dvoraks "Neue Welt"  mehr festhält als die Tammany Hall und die Demokratische Partei... Und die nämlich Kafka (das 'NATUR/THEATER', welch ein Begriff!) festhält, und eigentlich ganz entgegen all dem, was schon war, damals, als US-amerikanische Gesellschaft. Und was auf Karl und die vielen Karls real zukommen wird. Das ist drin. Es ist dies eine Hoffnung anderer, weiter gehender, nicht zu rechtfertigender und darum allein zu rechtfertigender Art. Eben weil sie, obwohl in den falschen Hoffnungen als undercurrent vorhanden, diese aufhebt. Und trotz der Enttäuschungen, die kommen werden, wieder und wieder, weiterlebt. Wie die Seele, "die Form des Körpers", die Seele namens Widerstand in jemandem wie Karl, die die Quelle seiner Schönheit ist. Und, nebenbei, der Schönheit der Sätze, die er spricht - they are pure music - manchmal von der harten, widerstrebenden, sich auflehnenden Art. Und dann plötzlich übergehend in... - entschuldigt, ich kenne Dvoraks Musik nur aus einem einmaligen Hören, als ich, unvorbereitet auf sie, das Radio einstellte und nicht gleich wieder ausmachte (wie meist) - also, ich denke, in UTOPIE, oder: das HIER UND JETZT des Andersseins, des Schutzlos-Seins, Sich-Öffnens, zu Menschen, die in diesem Moment sind wie meine Großmutter. Menschen, deren Klassenzugehörigkeit einem vertraut ist, die einem (wie, für Momente, die Köchin) lieb und vertraut sind, weil dieses Zur-selben-(wie Gramsci sie nannte)-subalternen-Klasse-Gehören, plus (für Momente) ihr Freundlich-, ihr Nicht-von-den-Kainszeichen-dieser-Gesellschaft-Gezeichnet-Sein durchleuchtet.
 

11

Ich denke an die Szene, von der ich soeben sprach, die letzte des Films - und ich wollte unmittelbar damit beginnen, zu sagen: diese Fahrt, in der die Weite, die Utopie des Amerikas von Dvorak liegt, und die Hoffnung, von der Aras Ören sagt, daß Menschen mit ihr aus der Türkei nach Westdeutschland kamen, in den Boom-Jahren (keine Hoffnung, wohl, auf das Abgespeist-Werden mit "schnellem Geld"; eher, ein Versuch, den schlechten Verhältnissen "zuhause", die einem die Luft zum Atmen nehmen, zu entrinnen: hin, zu einem "anderen Ort", der bisher, in dieser Welt des WELTMARKTS. der LOHNARBEIT, des KAPITALS und seiner Macht, "nirgends" ist, U meint ja NICHT, NICHT-EXISTENZ und TOPOS den ORT) - diese Fahrt,  mit den Blicken voll Sehnsucht, auf die Bewegung gerichtet, das Leben, das Licht, das immer wieder aufblitzt und sich addiert, steigert, multipliziert, eine neue Qualität gewinnt aus vielen Einzeleindrücken, während auch der Ton sich steigert, lauter wird: die vorwärtsdrängende Maschine, die den Zug antreibt - diese Fahrt (das AUSSEN) entspricht derselben Fahrt (dem INNEN), wo Karl neben einem Anonymen (es ist der Liftboy, der entlassene Italiener, aus dem Hotel), einem Menschen mit Hoffnungen, getrieben von den Zwängen des Arbeitsmarkts (wovon er weiß und nicht weiß?) sitzt wie später die jugoslawischen Gastarbeiter, wenn sie in Bussen nach Norden fahren. Vielleicht voll Hoffnung, und doch objektiv schon betrogen. WENN ES EINE HOFFNUNG GIBT, DIE ES SICH NICHT NUR FESTZUHALTEN LOHNT, DIE MAN FESTHALTEN MUSS, UM (WIE KARL) MENSCHLICH ZU ÜBERLEBEN, DANN DIE, DASS SIE, DIE HOFFNUNG DER WAHRHAFT HOFFENDEN, ETWAS ANDERES MEINT ALS DASS DER NÄCHSTE JOB EIN 'GUTER' JOB, DER NÄCHSTE AUSBEUTER EIN 'GUTER' AUSBEUTER SEIN WIRD. Oklahoma, wenn sie - die Arbeiter, und wir mit ihnen - es nicht anders machen, wird nichts anderes sein als die 500 Höllen davor. Oder wenigstens nicht wesentlich anders - trotz allem, was die 'Pragmatiker' zugunsten der 'demokratischen USA' des beginnenden (neo-?)imperialistischen Jahrhunderts seit etwa 1890 sagten, im Vergleich nicht zuletzt zum wilhelminischen Deutschland. Oder zu Österreich-Ungarn. Zum zaristischen Rußland.
 

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Ich bin ruhig und - unklar, warum? - erregt zugleich gewesen, als der Film sich dem Abbrechen wie ein Crescendo (es WAR eins!) näherte und das Licht anging. Und ich bin's immer noch, während ich dieses schreibe. Erinnerte mich auch an ein ähnliches Gefühl beim Abschluß des Lesevorgangs, von Kafkas "AMERIKA" - dem Text, der ja eigentlich nur ein Fragment sein kann, nur als solches existieren kann. Und auch, unter anderem, daraus diese aufgestaute, auf ein Durchbrechen der 'Staumauern' drängende Intensität bezieht? Wiewohl - wie im Film - alles vorher schon das auftürmt, staut: wieder und wieder... 

- Andreas Weiland
                                                       (1984)
 
 

Jean-Marie Straub und Danièle Huillet: Klassenverhältnisse
Spielfilm, BRD/Frankreich 1984, 122 Minuten
Buch und Regie: Jean-Marie Straub und Danièle Huillet
Mit Christian Heinisch, Reinald Schnell, Mario Adorf, Harun Farocki, Manfred Blank, Alfred Edel, Laura Betti et al.
 
 

http://www.edition-filmmuseum.com/

Klassenverhältnisse
Edition Filmmuseum 11

Franz Kafkas Romanfragment "Der Verschollene" wird in der filmischen Adaption von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub zu einer Allegorie über eine kapitalistische Gesellschaft, die in keiner spezifischen Zeit und in einem fiktiven Amerika spielt. Die Doppel-DVD enthält neben einer von den Filmemachern autorisierten Abtastung ihres Films zwei seltene Dokumentationen über die Dreharbeiten, das originale Drehbuch in verschiedenen Versionen, Rushes von den ersten Einstellungen des Films und bisher unveröffentlichte Arbeitsfotos.

Versandfertig in 48 Stunden

Preis: 29,95 EUR (inkl. 19% USt., zzgl. Versand)
 

http://www.goethe.de/INS/ph/map/acv/flm/2009/de4138408v.htm

Class Relations (Klassenverhältnisse) 
Directed by Jean-Marie Straub and Danièle Huillet 
Cast: Christian Heinisch, Mario Adorf, Harun Farocki et al.
1984, 127 minutes 

Winner, Honorable Mention, 1984 Berlin International Film Festival. 
This widely admired movie about double-standards in modern society is based on Kafka's unfinished novel “Amerika”. It deals with the disillusionment caused by the perception that the so-called ‘Land of Promise’ is as corrupt as the Old World. Spoken with syncopated pauses and a range of language registers significant for composer Arnold Schoenberg, the film helps receive German language and culture in a new way. 
 

 

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