Andreas Weiland
Danièle Huillets und Jean-Marie
Straubs Kafka-Film, ''Klassenverhältnisse''
The following essay attempts a reading of 'Class
Relations,' a film by Danièle Huillet and Jean-Marie Straub that,
in its own right, constitutes a faithful reading of Franz Kafka's fragmentary
novel, Der Verschollene (published later on, subsequent to Kafka's
much too early death, as the novel Amerika).
This essay was sent by Jean-Marie Straub to Manfred
Blank, a member of the editorial board of the Munich-based film journal
Filmkritik who submitted it for publication and later on returned the typescript
to me, appparently deploring the fact that he could not convince a majority
of the collective that was then editing the Filmkritik. The essay has not
been published until now.
~ AW |
Wie ergreift man, als Mensch,
der die Wahrheit der Verhältnisse, unserer Zeit, aber auch der Kafkas,
zu verstehen sucht, das Werk dieses 'Verschollenen'?
Der so lange, von der Literaturkritik
und in Universitäten und Schulen, im Sinne von 'mit dem Strom' gelesen
wurde - während er doch dagegen anschrieb, 'gegen den Strom schwamm',
bis ihn niemand oder fast niemand mehr las...
Das Störtebecker-Denkmal in Hamburg
Die steinerne Säule, Störtebecker-Figur,
zu Beginn des Films - an der der Blick vorbeigeht, auf die Architektur
dahinter; die Fassaden; Abbild einer herrschenden Klasse: in der Konfrontation
von beidem, spürt man sie nicht, Bedrohung? Gewalt? Auch die der
Ära des Blut-und-Eisen-Kanzlers, die Kafka kannte.
Dann, plötzlich: die 'Statue
of Liberty'.
Die 'Freiheitsstatue' in New York
Die beiden steinernen Monumente,
in den Anfangssequenzen dieses Films nach einem Romanfragment von Kafka,
den Danièle Huillet und Jean-Marie Straub nicht etwa 'Amerika',
sondern 'Klassenverhältnisse' nannten, werden eine Distanz von vielleicht
viertausend Kilometern versinnlichen. Erst die Säule der Hansestadt,
die erinnert an den besiegten Rebellen; dann, die in den Blick geratene
Freiheitsstatue: so ganz anders, in der Hoffnung, die sie evoziert, wie
sie da steht, in die Weite des Hafens postiert. Und doch wieder übermächtig.
Medusenhaft. Fern, selbst aus der Nähe gesehn. Nur verdinglichte
Freiheit, fetischisiert – nicht die wirkliche. Sie, die sich ahnen
läßt, sehnsuchtsvoll, immer wieder, später. Evoziert von
Bildern des Films.
Die Kojen an Bord...
Im off, die Stimme; die Tür
ist sichtbar: "Es ist ja offen." "Ich bin Karl Roßmann" sagt der,
der für uns sichtbar ist, zu dem Anderen. Die kleinen Kojen
– wie eng alles ist! Der Andere – kommt ins Bild.
Worte (des Jungen, Roßmann),
über einen Koffer, einen Regenschirm, die weg sind. Der Andere spricht
zu ihm; wieder aus dem off.
Diese Situation einer zufälligen
Begegnung, auf dem Schiff (denn es ist ein Schiff: der Andere gibt sich
als Heizer zu erkennen; Karl hat im Moment des Von-Bord-Gehens die beiden
Gegenstände, die er nennt, verloren; der Andere rät ihm, zu warten,
bis das Schiff leer ist, die Masse der Passagiere an Land ist, um dann
die Suche fortzusetzen) ist unglaublich sparsam realisiert und gleichzeitig
kommt es zu einer überaus starken Verdichtung, was die optischen und
akustischen Informationen angeht. Und ich komme, als Zuschauer, in diesem
Moment, nicht umhin, zu denken. Wie sehr die höchstmögliche
Ausnutzung des Schiffsraums aus Gründen, die Rentabilitätsgründe
genannt werden, den Raum einengt, dieses Menschen, der hier, auf dem Schiff,
als Heizer arbeitet. Wie sehr die Diskurse der beiden Sprechenden zwei
Menschen als Menschen einer bestimmten Gesellschaft begreifbar machen,
und zugleich etwas von ihnen verstellen. Dies, insofern eine Inkongruenz
besteht – die Sprecher nicht ganz im Sinne eines bestimmten
Rollenverhaltens, einer bestimmten Anpassung an Normen, zu einander reden.
Sodaß, im herrschenden Diskurs, auch durch Gesten, die Körpersprache,
'Löcher' erscheinen – Momente, wenn nicht (immer) des befreienden
Sprechens, so doch : einer überraschenden Nähe zueinander.
DABEI IST ES DIE GANZE ZEIT KAFKAS TEXT, DER REALISIERT WIRD. Kafkas Text,
durch den Karl hörbar wird, wenn er spricht von "sich ernstlich
bemühen", "Bürokenntnisse haben", "dienen" wollen. Oder der
Deutschnationalismus des Heizers, der so fatale Gegenwart heraufbeschwört:
die (durch die ideologischen Apparate: Schule, Massenmedien, Familie, Kirche
– trotz Gegentendenzen) produzierte Ausländerfeindlichkeit in
der Arbeiterklasse eines (sub-)imperialistischen Landes, die auf Arbeitsemigranten
als Konkurrenten stößt. Wie augenfällig das wird, das 'Teile
und herrsche'!
Und so, wie der Diskurs Karls nicht
die ganze Wahrheit über Karl sagt, wie er Bruchstellen, die Brüchigkeit
einer Sozialisation sichtbarmacht, so ist, das wird deutlich, auch der
Heizer eine widersprüchliche Figur. "Ein Arbeiter nach dem Geschmack
meines Kapitäns": wie das einschlägt, wie das Fragen im Kopf
wachrufen muß! Doch, fast gleichzeitig, diese mögliche
Offenheit, gegenüber einem anderen 'Geschlagenen' – Karl. Dieses kurze
Ansetzen – wenn er sich entschließt, endlich ins Schiffsbüro
zu gehen – zu einem Akt der Rebellion. Und dann: der Widerspruch
zwischen Revolte und Unterwerfung. Das ganze falsche Vertrauen in ein 'Recht',
das bei den Herrschenden zu suchen wäre. In die Mechanismen
der Herrschenden, 'das Gesetz.'
Karl und der Heizer, im Schiffbüro, stehen
dem Kapitän gegenüber...
Wie kaputt er dasteht, als die Hymne
("O say, can you see...") intoniert wird. Lange Einstellung, die das rüberbringt...
Dagegen die entlarvende Komik, wenn
sich der Kapitän – in der Schiffskabine – vor Karl, als dem
Neffen des Senators Jakob, in Anwesenheit des Letzteren für die 'Unannehmlichkeiten'
der Schiffspassage im Zwischendeck entschuldigt: "Wer kann denn wissen,
wer da mitgeführt wird."
Wenn in Karl – angesichts
des sichtbaren Gegensatzes der Schiffsoffiziere und des Herrn Senators
einerseits, des bei diesen Herren sein Recht suchenden, zusammengestauchten
Heizers andererseits – die Stimme seiner kleinbürgerlichen Eltern
antwortet: "Es hat mir nicht geschadet", so schwingt in diesen Worten etwas
anderes als die Bedeutung konventionellen Angepaßtseins mit: etwas,
das sich wohl nur aus dem Kontext, der Praxis Karls, die bereits Anzeichen
eines Widersprechens, einer Rebellion enthüllt, erschließen
läßt. Denn wir hören auch heraus: es hätte ihm (als
dem, der er vielleicht noch – oder schon – ist,
oder sein wird) sehr wohl geschadet, als Privilegierter mitzufahren.
Statt, wie eine Sache, 'mitgeführt' zu werden. Er hätte - um
eine Sprache ganz anderer Herkunft zu gebrauchen - sozusagen 'Schaden an
seiner Seele nehmen' können, hätte etwas von dieser Reinheit
verlieren können, die er verkörpert in Kafkas Text wie in diesem
Film.
Wenig später wird sichtbar,
worin diese Reinheit ihren Ursprung, vielleicht sage ich besser, ihre gesellschaftliche
Wirklichkeit haben könnte: es ist das Rechtsempfinden Karls, auf das
wir stoßen, wenn er von sich zum Heizer überlenkt, der fast
vergessen wurde und dem doch ein Unrecht geschah.
Dieses Rechtsempfinden ist möglicherweise
eine zentrale Kategorie, ein Schlüssel zu Karls Biographie, zu seiner
Revolte. Er, dem ein Unrecht widerfahren ist und der im selben Moment –
auch als Opfer, als Abgeschobener, als halbes Kind – ein Unrecht begangen
zu haben verspüren muß gegenüber einem noch Schwächeren,
seinem Kind gegenüber, das er in dieser kapitalistischen Welt, in
der der Mutter des Kindes vielleicht gekündigt wird, zurückläßt,
ist gerade deshalb ein Sensibilisierter. Und die Frage, was denn
aus den Zürückgebliebenen wird, ist auch dadurch, daß sie
weder im Text Kafkas noch im Film (explizit) gestellt wird, brennend präsent.
Und zugleich so sanft, so unmanipulativ ins Bewußtsein eingeschrieben,
daß sie eben gerade darum nicht verdrängt werden kann. Karl
gewinnt Gestalt als ein Mensch in einer besonderen Lage, mit einer besonderen
persönlichen Geschichte; zugleich muß es immer wieder Menschen
wie ihn geben (das wissen oder ahnen wir), denn es gibt eben jene Umstände,
die die Bedingungen seiner Erfahrung enthalten. Aber reicht das, zur Erklärung
eines Menschen, der es sich nicht gestattet, sein Rechtsempfinden abzutöten,
oder betäuben zu lassen? Vielleicht gibt es eine einzige, versuchsweise
Antwort der Art, daß die 'unten' dieses Rechtsempfinden eher und
deutlicher – aller in dieser Gesellschaft zu machenden Erfahrung
nach – zu haben pflegen als die 'oben'. Den 'Unteren' sieht man das schlechte
Gewissen sofort an, durchschaut ihre 'freche Unverschämtheit' als
dessen Tarnung: wie bei den Robinsons des Textes und Films. Eine Direktheit
bricht sich Bahn, durch die Ritzen der schlecht sitzenden 'Rollen'. Den
Leuten wie Senator Jakob dagegen passen ihre Rollen wie Maßanzüge.
Die der Klassenlage gemäßen Rollen der 'Unteren' sind viel variabler,
auch vielfältiger, viel oszillierender, von Moment zu Moment. Sie
lassen – unter Menschen, sei es der gleichen Klasse oder derselben
Seite: der Geschlagenen, oder Revoltierenden – Momente der befreienden
Offenheit zu, die unvergleichlich überraschend und schön sind,
wie kurz sie auch immer sein mögen.
Wie die Repräsentanten der
herrschenden Ordnung auf die Forderung nach Gerechtigkeit reagieren, zeigt
der Senator – und 'wiedergefundene' Onkel Karls – durch seine
Formulierung eines bezeichnenden Kompromisses: Recht und Disziplin,
sagt er, braucht man auf einem Schiff. Impliziert ist: selbst das Gesetz
der herrschenden Klasse muß also noch – von Fall zu Fall –
gebeugt werden, um die Herrschaft aufrechtzuerhalten. "So ist es", antwortet
der Heizer. Ein Kapitulation – jetzt, in dieser Situation, angesichts
gegebener Kräfteverhältnisse. "Du mußt dich aber zur Wehr
setzen", ruft ihm Karl noch zu. Es bleibt dies, den Film hindurch, in unseren
Köpfen.
Die Speicherhäuser am Hafen. Der Blick
geht nach oben...
Schnitt. Die Interieurs –
in ihrem Kontrast von enger Koje des Heizers und eleganter, weiträumiger
Kabine des Kapitäns – liegen hinter uns. Der Blick geht
nach oben – am Hafen entlang. Spiegelreflexe der Sonne im Hafenwasser.
Die Krane. Fleete. Realzeit der Fahrt an den Speichern entlang. O-Ton,
Vogelstimmen, Quietschen von Apparaten und Türen. Vor allem dieser
Wechsel von Häusern und schmalen Fleeten, wodurch immer wieder der
Blick auf ein Stück Himmel freigegeben wird: Ein eigenartig intensiv
das
Gefühl der Ankunft, einer Gespanntheit vermittelnder Rhythmus.
Dann, plötzlich, der freie,
offene, weite Himmel, als der Kai abbricht und die Kamera auf ihrer geraden
Linie weiterfährt: wie bisher nach oben gerichtet, wo nun keine Speichergiebel
mehr sind.
Schnitt. Am Kai sichtbar sind Onkel
und Neffe. Gehen am Rande des Wassers entlang. "Du hast es wirklich weit
gebracht", sagt der Junge zu dem Mann, der ihm bereits seine Geschichte
erzählt haben muß. (Dächte man rückschauend, am Ende
des Films, an diesen Satz zurück, wäre es vielleicht unmöglich,
die Doppeldeutigkeit dieser Worte nicht zu bemerken.)
Der amerikanische Onkel (Senator Jakob)
und Kark schreiten am Kai entlang
Der Junge ist, äußerlich,
schon ein anderer, als er soeben – auf dem Schiff – noch war. Sagt
das der Jakob, der Senator? Wie einen die Umstände doch 'machen' –
und dann wieder DOCH NICHT: denn Karl wird 'rausfliegen', aus dem Nest,
das der Onkel ihm zu bereiten gedenkt, anstatt wirklich ein Anderer zu
werden.
Die beiden gehen aus dem Bild. Ihre
Schritte im off noch hörbar. Wasser und Quadern des Kais liegen
vor uns.
Der Onkel, in seinem Studio, spricht
zu Karl. Ein Dritter ist anwesend. Es tauchen Worte auf wie ZEIT - eine
zentrale Kategorie des Kapitalismus, der den Wert der Arbeitsresultate
nach der gesamtgesellschaftlich durchschnittlich zu ihrer Produktion erforderlichen
Arbeitszeit bemißt). Worte wie UNANNEHMLICHKEITEN: die jemand (nämlich
Karl) bereitet habe, oder bereite, indem er die ins Auge gefaßte
Zeitordnung, den Zeitplan störe. Worte wie UNORDNUNG – unwillkommen
angesichts jenes Versuchs, eine kapitalistische Ordnung zu etablieren:
die Zeit zu regeln. Worte, auch, wie GEREGELT: eine geregelte Zeit
verfügbar haben. Wie TAUSCH: die Wurzel der Quantifizierung
der Zeit; die Wurzel bereits im Äquivalententausch. "Man muß
nehmen, was man bekommt", hören wir. Und spüren, wie der
'gleiche' Tausch für die 'unten' doch immer ungleich ist; spüren
die Resignation, die resultiert: eine Folge der Niederlagen, der persönlichen
wie jener einer Klasse.
Wir beobachten das THEATER, den
TANZ der Manipulateure und Intriganten – sowohl jenen des Onkels
Jakobs wie den des Vaters des 'jungen Fräuleins'. Und, später,
den weiterer Personen.
Die Autofahrt, vom Haus des Onkels zum
Landsitz, wo er 'dem jungen Fräulein' (Klara)
begegnen wird...
Dann, die Autofahrt. Karl, im Auto,
auf dem Rücksitz, blickt nach vorn, aber seine Gedanken, Sorgen, sein
Unbewußtes: alles scheint zurückzugehen. Die Kamera, ihr Blick,
unser Blick, geht durch das Rückfenster hinaus auf die hinter dem
Wagen zurückbleibende Straße, die zurückgelegte Strecke
– und zugleich fällt dieser Blick auf das Gesicht Karls, macht
uns nachdenklich. Die Sequenz gibt uns vor allem Zeit: Zeit, über
die vorige Sequenz zu reflektieren, statt uns einfangen zu lassen von einer
Spannung des fieberhaften Vorauseilens der Blicke und Gedanken, die nichts
anderes wäre als die Synchronisation mit der Handlung, der Autofahrt.
In einem Park: die Zeremonie des
Aussteigens. Das Auto hält in einer Umgebung, die sehr zu einem großbürgerlichen
Landsitz paßt und zugleich mit irgendetwas – der Geschäftigkeit,
der Geschäfte ahnen lassenden Atmosphäre jenes großstädtischen
Büros, in dem Karl dem Onkel zuletzt gegenüberstand? –
kontrastiert. Ich nehme die Nachdenklichkeit Karls wahr, der ausgestiegen
ist, der einen großen Baum vor sich, dann die Weite des Parks sieht.
Innen.
Ein Bourgeois spricht zu einem
Bourgeois. Der Diener bringt das Essen bis zur Tür des Eßzimmers.
Danach übernimmt es eine Frau, dasselbe zu servieren. Rituale, die
die Ideologie der Privatheit vergegenständlichen, während wir
die Worte des Mannes hören: "Sie ist so alt, daß ihr / schon
der Weg von der Tür / zu meinem Tisch / schwer fällt..."
Die grausame Geschichte von Green!
Innerhalb dieses fremden (von einer
ihm 'fremden' Klasse besetzten und angeeigneten, ihren Geist atmenden)
Orts entdecken wir plötzlich die Einsamkeit Karls, der aus dem Fenster
schaut, auf dem Fensterbrett sitzend wie jemand, der zu entfliehen sucht,
während ein Mädchen, im Zimmer, vor ihm, sagt: "Der letzte
Versuch."
Karl am Fenster, während Klara zu ihm sagt,
"Der letzte Versuch"
Die Uhr...
Ich sehe Karl, wie er da sitzt -
der Kopf schon nicht mehr sichtbar: 'anderswo', oberhalb des Bildrandes;
dafür sind die Hände zu sehen (eine Uhr?), und ich spüre
die Ermüdung des Jungen, die im Bild festgehalten ist. Meine Gedanken
kreisen um die Begriffe LUST und REGLEMENTS DES FASCHISMUS. Ich denke:
"wie kann es Lust geben, Lust zu bereiten; Lust, einen anderen
Menschen zu umarmen, ihm so nah wie möglich zu sein; oder
auch nur Lust, etwas zu lernen, zu denken, zu verstehen: in einer
reglementierten Gesellschaft, einer Gesellschaft, die die Mehrheit der
Menschen zu Objekten ihres Reglements zu machen sucht, anstatt Methoden
(oder eine Methode!) anwendende, strukturierende, zugleich frei produzierende
– auch sich selbst frei produzierende – Menschen zu wollen?"
Klara ist wütend, weil Karl sie nicht begehrt...
Als Karl geht, als er die Kapelle
entdeckt, macht er eine Feststellung: Es gibt auch in Amerika schon alte
Häuser - ein 'Erbe', eine historische Last. Gesellschaftliche Verhältnisse,
Klassenverhältnisse und Produktivkräfte sind nicht ein für
alle Mal als fortschrittlich gegeben. Sondern überholbar, einholbar
und eingeholt von weitergehenden Möglichkeiten – gegen die sie sich
sperren können. Der Traum von einem demokratischen Land... Immerwährende
Erschütterungen... Schon im Text Kafkas.
Käufe und Verbindungen. 'Liebe'
und Angewiesen-Sein, Abhängig-Sein.
Und die Leute sagen – hier,
in diesem Landhaus zum Beispiel – 'immer' etwas anderes als sie meinen?
Alle – außer Karl?
Karl, am Fenster. Das ist wie eine
Fluchtphantasie, eine Fluchtsehnsucht: Sehnsucht nach Freiheit... Wie sie
auftritt, wenn man sich eingesperrt fühlt.
Und es ist dies ein Moment, ein
'Merkmal' von Karl, das im Film nicht verloren gehen wird. Das auftaucht,
wenn er aus dem Hotel weggehen wird, mit Robinson wegfährt und damit
dem 'Verwundeten' beisteht – anstatt zu bleiben in der Falle, wo ihm der
'Oberportier' auflauert. Und das wiederkommt, wenn er den Polizisten
entwischt. Oder wenn er versucht, aus der Wohnung der (Ex-)Sängerin,
zu der ihn Robinson geführt hat, auszubrechen. Und dann schließlich,
wenn er das Plakat entdeckt, und sich anwerben läßt –
wie die türkischen Arbeiter in Istanbul, in der Zeit der westeuropäischen
Nachkriegshausse – und nach Westen fährt.
Karl, am Fenster: Der Wind bewegt
die Vorhänge in dem offenen Fenster; der Vogel, draußen, ruft.
Später würde er, Karl, jetzt, in diesem Moment, weggegangen sein...
So weit ist er noch nicht.
Wir hören Schritte, während
er sich entfernt, weg vom offenen Fenster, zurück ins Innere des Hauses.
Das Klavier, das leere Zimmer: aus
dem sich das Fräulein entfernt hat, in den Nebenraum. Vor der Tür
des Musikzimmers soll - auf Anweisung oder Bitte Karls – der Diener
warten. Aber es kommt immer anders: der Diener muß gehn, wird fortgerufen.
Ja, ich denke an Konspiration.
An Umwege. So, wenn Karl eine Nachricht erhalten soll, und sie erst
spät, zu spät erhält. So, wie den Koffer, den Schirm...
Ich denke an die Uhr, ihre Bedeutung.
Die Umwege haben (wie die Uhr, die Tatsache, daß sie instrumentalisiert
wird zur Produktion absichtsvoller Zufälle) ihre 'äußerliche'
Logik: eine geschäftsmäßige, chaotische Logik – undurchschaubar
wie die vielen Entscheidungen von Käufern und Verkäufern, am
Markt.
Der Mann an der Tür, dieses
Mal, überbringt den Brief des Onkels. Es ist 12 Uhr, und es ist ein
Umweg im Umweg, der realisiert wurde. Der Brief kommt erst jetzt; anstatt
es ihm direkt zu sagen, daß man sich trennen sollte, hat der Onkel
den Weg des Briefs gewählt.
Ich habe plötzlich die Gänge
des Hauses begriffen. Die Korridore, denen die Kamera folgt. An denen sich
das Auge, durch ihre Nüchternheit wach, entlang tastet. Ich habe sie
begriffen als Materialität: des Labyrinths. Der Umwege.
Ihre sinnlich erfahrbar gemachte Metapher. Jener gesellschaftlichen Verhältnisse
bildlicher Ausdruck, in der die Waren für einen anonymen Markt produziert
werden. Wo logisches Planen immer wieder scheitert an der fehlenden Transparenz
dieses Marktes. Und wo doch hinter dem Rücken der Menschen sich die
Gesetze dieses Marktes etablieren, wo blinde Kräfte sich durchsetzen.
Wie jener Koffer, der irgendwie schließlich doch 'ankommt'.
Die Proletenmütze...
Er, Karl, hat schon – in dem Moment,
wo ihn der Brief des Onkels erreicht, mit dem er erneut fortgestoßen
wird – die Proletenmütze. Um als wieder Ausgestoßener,
als Arbeiter zu gehen! Vorhin, als er im Eßzimmer des Gastgebers
darauf bestand, ja drängte, vorzeitig gehen zu dürfen, war sie
ihm – da ihm der den Bourgeois, oder zumindest den besser situierten
Angestellten kennzeichnende Hut abhanden gekommen war – gegeben worden.
Und auch der Koffer und Schirm sind
nun da, und die Fahrkarte nach San Francisco. Dieses Zusammentreffen, die
'Zufälle': das ist keine Metaphysik, kein Wunder. Es ist die in Handlung
übersetzte Logik oder Gesetzmäßigkeit des Systems. Und
es bezeichnet exakt die 'blinde' Art seines Funktionierens.
Zum Lachen, wenn auch zum bitteren
Lachen, Anlaß gebend: der Ratschlag des bourgeoisen Gastgebers zum
Abschied: "Fangen Sie nur ruhig ganz unten an". Mitgedacht ist, sehr amerikanisch:
Und versuchen Sie, die soziale Leiter zu erklimmen...
Ich muß an noch etwas anderes
denken, an einen Satz von Sartre: "Die Hölle, das sind die Anderen."
Der Andere, der Karl im Landhaus den Brief überbracht hat,
erscheint als Feind. Unwillkürlich stellt man Überlegungen an:
Ist Konkurrenz im Spiel? Es ist Karl, der das durchschaut und
ausspricht. Und es ist Karl, der – auch darum – hier fehl am
Platze ist, der weit weg gehen soll.
Karl bemerkt noch etwas anderes.
Und mit ihm der Zuschauer und Zuhörer. Karl bemerkt eine seltsame
Vertauschung der Begriffe, ein Auf-den-Kopf-Stellen der 'wirklichen Verhältnisse'
in den Begriffen, in denen von ihnen gesprochen wird. Sie machen dir
'Scherereien' (die existenzbedrohend sein können). Und sie sagen:
du machst ihnen "nicht wenig Scherereien." Auch das ist ein Moment
des Diskurses der Herrschenden, in dem zuvor von PFLICHT, HÖHEREM
BEFEHL und Ähnlichem die Rede war.
Karl existiert in einer Welt der
Manipulation, die sich durch eben diesen Diskurs zu verstellen sucht.
Die Herberge.
Der Karl ist jemand, der überhaupt
nicht auf so etwas vorbereitet ist durch seine Sozialisation. Stellt sich,
als er ankommt, richtiggehend vor – während die Tramps in dem Schlafraum,
den er betreten hat, nur schlafen wollen!
Die beiden Schlafenden haben bereits
die einzigen vorhandenen Betten belegt. Karl konzediert dies unmittelbar
– nicht nur rhetorisch. Er wird im Sitzen zu Schlafen versuchen.
Als das Licht auf der Tapete erscheint,
spürt man: Der Morgen ist, schon, da. Wie schnell die Zeit vergangen
ist!
Die Nacht war kurz – und
lang zugleich. Das Sitzen und Nicht-Schlafen, das Einschlafen (vielleicht),
oder das Nachdenken, dann das plötzliche Bewußtsein der Helligkeit:
alles ist sinnlich, sehr klar und deutlich, präsent.
Das Hüsteln. Wann und wo war
das? Im Schlafraum?
Schnitt.
Die nächste Einstellung setzt
ein mit der Bewegung von Zügen, Lastwagen, PKWs, über eine Brücke,
die voll im Blickfeld ist.
Die amerikanische Brücke...
Es ist eine schöne Einstellung.
Eine, die mich an ein Gedicht von Brecht erinnert, ein Los Angeles Gedicht.
Ein Gedicht, das die Geschäftigkeit, die Bewegung des Kapitalismus
in einer großen Metropole, the hustle and bustle of capitalism,
festhält. Die Korridor-Metapher verformt sich in eine Straßen-Metapher;
die zirkulierenden Waren finden in den Schienensträngen und
dem Highway ihre Lebensadern, ihre Arterien.
...auf der Brücke, Karl mit dem Koffer,
Robinson und Delamarche
Schwenk: Die drei aus dem Schlafsaal
der vorigen Einstellung – Robinson, dessen Begleiter, und Karl –
kommen, an ein Brückengeländer gelehnt, erst jetzt ins Bild.
Haben vielleicht dem ganzen Getriebe zugeschaut, eine Zeit lang. Vielleicht
einen Tramp-Versuch für kurze Zeit unterbrochen. Falls sie ihn nicht
erst jetzt aufnehmen wollen...
Wie auffällig das ist, nach
allem bisherigen: die ganz andere Redeweise der Arbeiter.
Dann, sichtbar: der Fluß,
unter der Brücke.
Die drei verschwinden aus dem Bild.
Blick von der Brücke...
Als, in der folgenden Einstellung,
Karl die alte Frau – die Köchin! – trifft, ist es ein Moment
des vollkommenen Glücks.
Wie aufgetaut: das Gesicht.
Das matte Fenster, hinter ihm.
Er könne bleiben, wenn er
wollte, sagt sie.
"Aber meine Kameraden..."
In diesem Augenblick – als wolle
sie Karls Argument, aus einem Bewußtsein der Solidarität geboren,
'wegwischen' – gibt es bei der Frau gegenüber etwas,
das sich nicht genau benennen läßt: eine 'falsche' Bewegung
im Gesicht, in den Augen? Und er, Karl, ist sofort mißtrauisch.
Sie aber gibt ihm den Korb mit,
in dem er etwas zu essen mitbringen wird, für die Kameraden und sich.
Er soll das Essen bezahlen, wenn er den Korb zurückbringt. Ist es
ein Versuch, etwas 'gut' zu machen? Ein Versuch, ihm zu sagen (wortlos),
daß sie ihm vertraut? Ein Zeichen wirklichen Vertrauens? Oder eine
'Angel', an deren 'Haken' er hängen bleiben soll?
Robinson und Delamarche geben vor, zu schlafen...
Die Kameraden sind unterdessen draußen
auf freiem Feld, wo Karl sie bei seinem Koffer zurückgelassen hat.
Als er zu ihnen zurückkehrt, liegen sie da, als ob sie schlafen. Sein
Koffer ist geöffnet und durchwühlt. Doch die erste Reaktion Karls
ist nicht Mißtrauen gegen die Gefährten; es ist ein Ruf: Paßt
ihr denn nicht auf?! Der Koffer ist ja geöffnet!
Karl kommt mit dem Korb bei Robinson und
Delamarche an...
Die beiden Reisegefährten sehen
den Korb, den er mitbringt. Gefüllt mit Essen und Trinken. Der gierige
Griff – das geht tief, sagt sehr viel, über das, was die Verhältnisse
aus Menschen machen können. Die beiden essen und trinken, anstatt
sich um Karls Aufregung zu kümmern. Und es ist genau diese Gleichgültigkeit,
die ihn erkennen läßt, daß sie sich am Koffer zu schaffen
gemacht haben.
Das Wichtigste ist abhanden gekommen:
ein Photo seiner Eltern. Alles andere, das sonst noch fehlt, zählt
dagegen nicht. Es folgt ein Diskurs über Besitz. "Er glaubt, wir neiden
ihm seinen Besitz", sagen die, die nichts haben – noch nicht einmal einen
Koffer. "Ihr habt das Photo zerrissen, weil ihr mir mein bißchen
Besitz neidet", stellt Karl dem entgegen. Es wird sinnfällig, wie
Besitz zwischen Menschen kommt, sie trennt, als objektives Faktum. Die
Aggressivität der Gefährten, die schon lange Tramps sein mögen,
wohl auch auf der Suche nach gelegentlichen Jobs, kommt zum Vorschein.
Nein, sie verkörpern kein Ideal; sie sind eine 'verkommene Bande':
Shui-Da Typen. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.
Und außerdem: Was macht
sie so?
Warum wird Robinson uns später
'nahe sein' - in all seiner gerissen-komischen Widersprüchlichkeit?
Warum ist selbst ein so hinterhältig-roher,
auch gegenüber seinesgleichen so ausbeuterischer Typ wie der Kollege
Robinsons zumindest nicht unsympathischer als der saubere, gepflegte
'Onkel Jakob', der Senator Jacob?
Es scheint, Geld spielt für
diese Leute wie Robinson und seinen Gefährten eine riesige Rolle.
Aber nicht so wie für all die 'Jakobs', die darauf aus sind,
zu akkumulieren. Sondern eben wie es für viele Arbeiter im Kapitalismus
eine Rolle spielt: es wird begehrt, um's auszugeben, mit vollen Händen
(wenn man's mal in den Händen hat, in größeren Scheinen).
Je unpolitischer, je 'bewußtloser' die Robinsons sind, je mehr ihnen
der Funke fehlt, der sich zum Widerstand entzündet – wie's geschieht
bei Karl, tendenziell – , um so mehr werden sie im euphorischen Geld-Ausgeben
ein Ziel sehen.
Das Photo fehlt – aber Karl ist
bereit, alles, was er hat, dafür zu geben, wenn er es nur zurückerhielte.
Diese Bereitschaft, diese Haltung hat nur eine Bedeutung: sie schmeißt
die Logik des Äquivalententauschs über den Haufen. Nicht quantifizierbarer
Tauschwert zählt für ihn; sondern die Qualität
eines menschlichen 'Werts'.
Die Köchin läßt ausrichten, wo denn der
Korb bleibt?
Inzwischen ist jemand (wieder, das
Spiel der 'Zufälle'!) – von der Köchin geschickt – gekommen.
Die Köchin läßt Karl ausrichten, daß er den Korb
zurückbringen soll. Es bewahrt Karl davor, von den Weggefährten
verprügelt zu werden. Dieser Zufall, bei Kafka – er erscheint mir
in diesem Moment wie ein Effekt des Wunsches, den Unterdrückten
zu helfen. Der Zufall wird sich nicht immer gegen sie wenden, stattdessen
manchmal auch ihnen zu Hilfe kommen. Ist das eine die Logik des
Kapitals, so das andere die des 'Herzens'? Anders gesagt, die
mögliche Solidarität der Klasse, die hier sich konkret realisiert
in dem (zu vermutenden!) Gespür der Köchin, daß da draußen
etwas nicht stimmte, daß etwas dort nicht 'in Ordnung' war, daß
der Karl schon zu lange weg war, usw. Eine vielleicht gewagte, vielleicht
sogar unwahrscheinliche 'Erklärung', die aber ihren Auslöser
findet in etwas, das Kafka diesen Zufall (als Schreibender) produzieren,
also 'erfinden' läßt. Und dieses etwas ist, denke ich,
jene schon genannte 'Wunschenergie' des Autors.
Die zweite Begegnung mit der Köchin
wird für Karl zugleich zu einem Diskurs über "frei" sein. Frei
sein wozu? Um "zu etwas besserem zu gelangen", schlägt die Köchin
vor. Es ist die Sprache, die die herrschenden Verhältnisse sie gelehrt
haben. Welche Zukunft sieht sie für Karl vor? Die von Kafka erfundene
Antwort ist voller untergründigem Witz, voller Ironie. Karl soll,
so wünscht es ihm diese Köchin, Liftboy werden und aufsteigen.
Wie aber kann ein guter Mensch wie
die Köchin für den, de facto, verwaisten Karl sorgen – entsprechend
ihren mütterlichen Gefühlen für ihn? Indem sie einem
anderen Menschen Unglück bringt? Den italienischen Liftboy um seinen
Job? Es ist nicht so, hier. Aber die Frage tauchte tatsächlich einen
Moment lang in meinem Kopf auf...
Für einen Moment habe ich 'das
böse Gesicht' der Köchin gesehen. Mit Recht?
Karls Schlafplatz im Hotel...
Während Karl von der Köchin
– tatsächlich gilt sie als Oberköchin – sein neuer Schlafplatz
zugewiesen wird, können wir dem Diskurs Hinweise entnehmen, die anzeigen,
wie fortgeschritten die Spezialisierung und zugleich die Bürokratisierung,
noch in Bezug auf die kleinsten Arbeiten, im Hotel ist.
Gleichzeitig wird etwas anderes
thematisiert, etwas, das mit der Biographie Karls – dem Grund seiner
Auswanderung nach Amerika, und dem vorgeschobenen Grund für jenen
Besuch auf dem 'Landsitz', der den Anlaß zur Trennung von seinem
'amerikanischen' Onkel lieferte – verknüpft ist. Etwas, das auch,
als Karl, nach einem kurzen Moment der Offenheit zu der Köchin, sich
wieder zurückzieht auf eine Position der 'Vorsicht', aufgetaucht war:
es ist dies seine Beziehung zu Frauen.
Im Film wird diese Beziehung entmystifiziert.
Sie wird sichtbar als Beziehung zu Menschen (und zwar durchaus nicht
idealisierten Menschen), die leben in einer Klassengesellschaft.
Karl wacht auf und entdeckt Therese, die an
seinem Bett sitzt...
Wenn Therese an Karls Bett sitzt,
dann ist das, was sie dort hin trieb, auch ihre Angst: die Angst, den Job
zu verlieren, an den 'Neuen': an ihn, Karl, der die Sympathie der
Oberköchin errungen zu haben scheint. Das ist ganz vorne im Kopf,
ist das, was das andere, wichtigere, zunächst überlagert. Und
was – scheinbar nebenbei – in dem, was sie zu Karl sagt. 'rauß
muß', artikuliert werden muß.
Therese
Aber tiefer ist etwas anderes,
das sie aus ihrer Kammer still und heimlich an jenem Abend oder in jener
Nacht oder an jenem sehr frühen Morgen zu Karl treibt: das Leiden.
Das Unglück, in ihrer Geschichte, das sie aussprechen muß, gegenüber
einem anderen Menschen, der wie sie Unglück erlebt hat. Von dem sie
spüren muß. wie rein er ist, wie sehr er ein Mensch ist
– jemand also, dem sie sich mitteilen kann, ohne daß sie einem Konkurrenten
'Munition' liefert. Sie spürt: sie wird ihren Job durch Karl nicht
verlieren. Sie versteht: sie kann sich ihm gegenüber schwach
zeigen, sich aussprechen, und aus dieser Aussprache Stärke, neue Kraft,
schöpfen.
Therese und Karl am Fenster...
Wir sehen beide am Fenster.
Die Worte.
Nur das Licht ist sichtbar im Fenster.
Wie durch Milchglas.
Dann: Licht und Schatten auf Thereses
Gesicht.
Jetzt: die Sirene des Dampfers.
Die Welt draußen, die durch Geräusche und durch das
Sprechen von ihr herein kommt, präsent wird.
Die Welt draußen, das ist
das (auch), was Therese dem Karl erzählt: von sich, ihrer Mutter,
die Blut husten mußte, an dem Morgen des Tages, an dem es passiert
ist.
Jetzt: ist sein Gesicht sichtbar,
Licht fällt darauf. Die Wand hinter ihm bleibt im Schatten.
Wieder ihr Gesicht.
Therese erzählt, wie die Mutter
an der neuen Baustelle mit Therese ankommt.
Wir bemerken die Verzögerungen
der Erzählung.
Die Sirenen zwischendurch.
Therese spricht von den Handlangerinnen.
Auf dem Bau – unten.
Wie die Mutter, als wolle sie beweisen,
daß sie zupacken kann, ganz selbständig, ohne daß sie
einer aufhält, oben auf den Bau geht,
hinabfällt,
ein Haufen Steine ihr nachfällt,
auf sie drauf;
dann das schwere Brett, auf sie,
drauf.
Wie genau sie das erzählt:
als ob der ganze Schmerz – alles davon – festgehalten,
nichts
verdrängt werden soll.
Und jetzt setzt das Nichtverstehen
ein, beim Hörer, bei uns. Das nicht versteht, warum alles immer bürokratisch
abgesperrt ist, in unsrer Welt – außer, wenn du die Absperrung brauchst.
Wenn sie dir helfen würde.
Und jetzt wissen wir auch: da ist,
unausgesprochen, in Therese, das Schuldgefühl. Das Gespür, nicht
damit fertig zu werden. Vielleicht bis zu diesem Moment, in dem sie davon
erzählt. Da ist dieses Nichtverstehen, warum es passieren mußte.
Warum man nicht vorgewarnt war. Nicht bewußt genug, um die Situation
des Anderen zu verstehen. Um sein Vorhaben zu durchschauen. Und zu verhindern.
Rechtzeitig.
War es Selbstmord?
Wahrscheinlich – denken wir. Oder:
vielleicht.
SCHWEIGEN. Nachdem Therese ihre
Geschichte beendet:
Das Nachhallen.
Jetzt: sind beide, zugleich, am
Fenster.
Es ist wie eine "Vereinigung".
Eine Solidarität, ein Verstehen: ganz unmittelbar, ihrer Herzen. Der
"Geschlagenen". Eine Emotion, die herrührt aus Denken, Verstehen.
Ein Verstehen, das identisch ist
mit dem "Dasselbe"-Fühlen: einem, das auf Grund realer gesellschaftlicher
Erfahrungen möglich ist. Und das sich einstellt, ohne daß man
darüber sprechen müßte.
Die Kamera fährt zurück.
Die beiden - Karl und Therese:
mehr von ihnen kommt ins Bild. Es ist eine Bewegung des Abrückens
des Zuschauers. Der nachdenken kann, über alles.
Es resultiert kein gedankenloses
Sich-Identifizieren, wie es in einem ganz anders gemachten Film ein tränenerfülltes
Gesicht in Großaufnahme als Vehikel erhalten könnte.
Schnitt.
Karl als Liftjunge steht vor dem
Aufzug. Wir hören das Knacken, wenn er in den Apfel beißt, so
laut.
Die physische Präsenz eines Menschen und seines Tuns – die der
Dinge, schließlich – wird hier über den Ton noch mehr
als durch das Bild vermittelt.
Robinson taucht überraschend an Karls Arbeitsplatz
im Hotel auf und möchte Geld von ihm...
Plötzlich ist Robinson da.
Er möchte Geld, läßt sich zusammensacken, als sei er zu
betrunken, um zu gehen. Eine glatte Erpressung.
Während Karl den Robinson im
Aufzug rauf bringt zu seiner Schlafstelle, hören wir das Geräusch
des fahrenden Lifts. Spüren, so deutlich, die Zeit, die vergeht, während
beide hinauffahren.
Roher, unverputzter Beton; die Kammer,
wo Karl schläft.
Karl fährt wieder 'runter.
Die Zeit! Wieder spüren wir die vergehende Zeit: Realzeit, und gleichzeitig
erlebte, psychische Zeit.
Als Karl von Robinson zurückkommt,steht bereits
der italienische Liftboy am Fahrstuhl
Die Abwesenheit vom Arbeitsplatz,
wie es in der Terminologie dieser Gesellschaft heißt, wird einem
Halbwüchsigen einen Job bringen, und Karl um diesen Job bringen.
Er verliert ihn, fast wie er ihn erhielt. Die Zufälligkeiten sind
solche des Systems: die Konkurrenz ist das strukturell entscheidende
Merkmal. Ihr verdankte Karl den Job als Liftboy mehr als der Gutmütigkeit
einer Frau, die zufällig wußte, daß der Job neu zu besetzen
sein würde. Und durch sie verliert er den Job. Robinsons Auftauchen
liefert nur den Anlaß; es hätte ein anderer sein können.
Die Wachsamkeit und Gemeinheit der Konkurrenten ist nur die konkrete Ausprägung,
Folge
und
nicht Ursache der Konkurrenz. Ob der Oberportier ein gemeiner
Kerl ist, ob die (Ober-)Köchin in ihrer Sympathie zu Karl wankelmütig
ist, ob bei ihr sogar als mütterlich kaschierte Eifersucht mitspielt,
das sind untergeordnete Fragen. Es hätte ihn auch ein korrekter Vorgesetzter,
auch ein "freundlicher" Chef entlassen können.
Der Oberportier wartet auf Karl...
...stößt ihn herum und jagt ihn fort.
Aber die konkreten Ausprägungen
sind auch nicht belanglos. Die Spezialisierung und Bürokratisierung
im Hotel enthüllt sich Karl nämlich nunmehr endgültig als
das, was sie zutiefst ist: eine interne Differenzierung der Arbeiterklasse,
die das kapitalistische System produziert, indem es Hierarchien einführt:
Köchin - Oberköchin; Buchhalter - Oberbuchhalter; Portier - Oberportier.
Wie lächerlich diese auch sein mögen – es sind dies interne
künstliche Differenzierungsmerkmale der Klasse, die, eingeführt
durch die Kapitalseite, von den so "Ausgezeichneten" – den Oberköchinnen,
Oberbuchhaltern, Oberportiers usw. – als kleine, ausgeliehene Macht
(über Menschen!) verstanden und angeeignet werden. Delegierte kleine
Portionen Macht, die ein "Kuschen" vor den eigenen Vorgesetzten erträglicher
machen sollen, indem sie ihrerseits benutzt werden können, um Menschen
zu erniedrigen.
Und so erklärt sich dann die
blinde Wut, die in dem "Oberportier" entsteht, wenn da jemand – wie Karl
– dieses Spiel nicht mitspielt. Also zum Beispiel den 'Oberportier' nur
einmal am Tag – und nicht bei jedem Vorbeigehn – und dann auch nur
mit einem freundlichen "Guten Tag" statt einem arschkriecherischen "Guten
Tag, Herr Oberportier" grüßt.
Zu den konkreten Ausprägungen
gehört auch das Verhalten der Frauen, die Karl mögen: Das 'Umfallen'
der Köchin etwa. Aus einem Gemisch aus Eifersucht und Angst. Eifersucht:
weil Karl sich draußen 'herumgetrieben' haben soll, in seiner
freien Zeit? Und Angst: weil ihre Stellung im Hotel selbst darunter leiden
könnte, daß sie einen 'dem offensichtlichen Anschein nach'
unzuverlässigen Jungen als Liftboy untergebracht hatte? Und was Therese
angeht, ihr Schweigen: ist es nicht vielleicht so, daß wieder die
Angst – um ihren Job – die Oberhand gewinnt?
Der Oberportier aber versucht Karl
zu verprügeln, bevor dieser das Hotel verlassen kann.
Dann: die Fahrt zur Wohnung Bruneldas:
Was doch der Robinson für'n wehleidig-komisches, alle Kritik entwaffnendes
Gesicht macht, in dem Auto, in dem Karl ihn begleitet. Der dann auch noch
die Fahrt bezahlen soll.
Und wie unbürokratisch der
Fahrer ist! 's ist ihm egal, wer ihn bezahlt. Er hat erstmal den 'geschundenen',
von Karls Ex-Kollegen, den Liftboys, verprügelten Robinson nach Haus
gefahren. Jetzt möchte er nur sein Geld.
Die Bürokratie funktioniert,
wo sie unwillkommen ist. Zum Beispiel, wenn sich die Polizisten für
einen Liftboy in Liftboyhose, aber ohne Uniformjacke interessieren.
Karl rennt vor dem Polizisten weg
Karl flieht.
Karl läuft um den Block, genau
in den Eingang, wo Delamarche, der Weggenosse Robinsons und jetzige Liebhaber
Bruneldas, auf ihn wartet.
Delamarche, der Karl abgefangen hat, hält ihm
den Mund zu
Brunelda auf dem Sofa, in ihrer Wohnung
Brunelda. Eine irritierende Schönheit
auf dem Sofa, die ihre Männer kommandiert, von denen wiederum der
eine den anderen kommandiert: die Hierarchie durchdringt die Liebes- und
Freundschaftsbeziehungen und pervertiert sie zur 'Sklaverei'. Wie häßlich
dieselbe Frau später auf dem Balkon aussehen wird! Wie häßlich
das Ausbeuten die Ausbeuter macht – ihr Antlitz, ihr Gesicht: eine
Fratze.
Robinson ißt
Karl, auf Bruneldas Balkon, blickt zu Robinson
Robinson sitzt auf'm Balkon und
ißt. Er wird sichtbar als jemand, der
auch im Gefängnis einigermaßen 'zufrieden' ist, wenn er essen
kann. Karl sitzt ihm gegenüber – ausgesperrt, wie Robinson; er soll
diesen bemitleiden, kriegt von ihm aber nichts ab, weder zu essen noch
zu trinken. Die Szene ist entlarvend: enthüllt einen Zustand infantiler
Regression (falls je vorher eine über das Stadium des Kindes hinausreichende
Entwicklung Robinsons stattgefunden hat).
Delamarche, Robinson, Karl und Brunelda
Karl reagiert ganz anders vis à
vis der Option einer Gefangenschaft im Hause Bruneldas. Während die
beiden Weggefährten rechts und links auf dem Balkon plaziert sind,
grenzt er sich von der Position der Infantilität und Apathie ab. Begegnet
den Ausführungen Robinsons mit einem: "Nein, ich fahre bestimmt weg."
Erklärt entschieden: "Was für dich gilt" – die Unmöglichkeit
des Entfliehens – , "muß doch nicht für mich gelten."
Delamarche
Robinson spricht übrigens ganz
anders, wenn er von Brunelda spricht. Man spürt eine Leidenschaft,
die ihn ergreift. Die sich aber nie praktisch realisieren kann, weil er
sich selbst zensiert: "Natürlich kann man das nicht dulden, daß
ein Bettler eine Dame anrührt."
Stattdessen kann er, Robinson, rechtfertigen,
daß er die perverse Beziehung des Ex-Manns der Sängerin zu dieser
ökonomisch
auszubeuten sucht. Der Ex-Mann nämlich lebt von Brunelda getrennt.
Er versucht aber, Informationen über sie – als verschaffe ihm
das einen kleinen "Lustgewinn" – zu kaufen. Karl, der ganz
klar sieht (weil er kein Eigentum an Personen zugestehen kann), kommentiert
deutlich: "Was will er denn haben? Sie WILL ihn NICHT."
In Bruneldas Wohnung gefangen.
Die verschlossene Tür...
Dann, der Versuch Karls, zu entfliehen.
Der Kampf, hörbar, im off.
Auf der Straße, die Parade
des Politikers, der sich um seine Wahl, oder Wiederwahl bemüht. Alle
– oder fast alle – aus Bruneldas Wohnung stehen auf dem Balkon.
Später: Karl spricht (es ist
Abend oder Nacht) mit dem Nachbarn. Vom Balkon aus. Der Nachbar –
er mag Brunelda und Co. nicht. Er arbeitet tagsüber. Studiert nachts.
Rät aber Karl davon ab, dasselbe zu tun.
Sie kommen auf die Parade vom Nachmittag
zu sprechen.
Karl sagt: "Ich verstehe von Politik
nichts."
Der Nachbar: "Das ist ein Fehler."
– Dieses Wort! Aus dem Munde einer Figur Kafkas! Wer hätte das erwartet!
Nächste Sequenz: Die Brandmauer
ist im Bild. Wir sehen die Doppelschrift. Einmal: STREIK. Es ist darin
das Nebeneinander unserer Gegenwart und der Zeit, in der Kafka schrieb;
STREIK, das kann in beiden Zeiten situiert sein – 1895 und jetzt.
Dann aber, darüber, über dem Wort STREIK – sodaß
der Eindruck eines Palimpsestes entsteht – die Reklame, für das Naturtheater
in Oklahoma, das noch Arbeiter sucht... Großes weißes Plakat,
Druckbuchstaben, versus das hingemalte Wort STREIK.
Die Einstellung transportiert die
Länge der Zeit des Sehens... Von Karls Blick, auf das Plakat.
Die folgende Einstellung beginnt
mit dem Licht des Tages. Reflektiert auf dem fließenden Strom.
Dann Büsche, das Geräusch
der Lokomotive.
Innen, im Abteil: Karl im weißen
Hemd, neben einem Mitreisenden. (Es ist der italienische Liftboy!)
Die Zeit der Fahrt, den Fluß
entlang, wird bewußt.
Das Licht auf dem Fluß
Die Bäume.
Und die Weise, in der die Bäume
auftauchen und wieder verschwinden. In einem Rhythmus.
Etwas öffnet sich, vor unseren
Augen, und in uns:
das Gefühl der Sehnsucht,
nach Befreiung.
Die Namen der Darsteller erscheinen.
Das Bild ist weg.
Nach Westen, wissen wir. So wir
die türkischen Arbeitsemigranten nach Westen fahren: nach Westdeutschland,
Belgien, Frankreich, Schweden.
Die Zugsirene heult auf.
Die Namen, weiß auf schwarz,
sind weg.
Die schwarze Leinwand bleibt.
Das Fahrtgeräusch schwillt
an.
Die Lichter gehen an im Kinosaal.
(1984)
Karl Roßmann: Christian Heinisch
Giacomo: Nazzareno Bianconi
Onkel Jakob: Mario Adorf
Brunelda: Laura Betti
Delamarche: Harun Farocki
Robinson: Manfred Blank
Reinald Schnell as Heizer: Reinald Schnell
Line, die Köchin: Anna Schnell
Kapitän: Klaus Traube
Student: Georg Brintrup
Oberkassierer: Hermann Hartmann
Schubal: Gérard Semaan
Stewart: Jean-François Quinque
Pollunder: Villi Vöbel
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in Society # 16 |