Vom Schreiben über "Straub-Film(e)"! Ein Interview
Linda Lombardi: Soweit ich weiß, hast Du
immer wieder Texte über Filme von Jean-Marie Straub und Danièle
Huillet geschrieben. Welches war der erste Film von ihnen, den Du sahst?
AW: Das muß Die Chronik der Anna Magdalena
Bach gewesen sein, aber vielleicht war es auch Machorka Muff.
Es ist möglich, daß beide Filme an jenem Tag im Jahr 1969 gezeigt
wurden, an dem ich die Filmmacher kennenlernte. Sie waren vom Filmclub
der Uni eingeladen worden. Wir kamen ins Gespräch, nach dem Film.
Dann schickte ich ihnen den Bach-Film Text und veröffentlichte das
auch in der kleinen mehrsprachigen Zeitschrift, die ich zusammen mit Steven
R. Diamant herausgab. Damals begann die Korrepondenz mit beiden, die eigentlich
– trotz der Jahre in Taiwan und den temporären Jobs an der RWTH zwischen
1982 und 2005, die Tag für Tag sehr viel Zeit verschlangen – bis zu
Danièles Tod nicht abriß. Jean-Marie ließ es mich fast
immer wissen, wenn irgendwo ein neuer Film der beiden gezeigt wurde, zu
dessen Vorführung sie anreisten und so sahen wir uns auch einige Male
wieder... Und vor allem, sie waren offenbar auch ein wenig interessiert
an den Texten zu den Filmen, die ich ihnen schickte. Es waren ja, im herkömmlichen
Sinne, keine Rezensionen, sondern festgehaltene Eindrücke, Notizen
des Gesehenen, vermischt mit Gedanken, die beim Sehen auftauchten. Protokolle
des Sehens, wenn man so will. Ich schrieb im Kino, während der Vorführung,
und änderte im Nachhinein fast nichts. Es war unzensiert, direkt.
Und nicht geschrieben mit der Intention, etwas “Kluges” zu Papier zu bringen.
Vielleicht, wenn überhaupt, dann mit der Intention, in Worten festzuhalten,
was ich sah. Als könnte, in hundert Jahren, falls eine Kopie des Films
nicht mehr existierte – was, gottbewahre, nicht geschehen möge – ein
Leser dann einen visuellen Eindruck des Films bekommen. Das ist natürlich
eine absurde Vorstellung: kein Mensch wird diese Texte in hundert Jahren
noch lesen. Vielleicht werden sie morgen schon vergessen sein. Doch ich
denke: Jean-Marie und Danièle haben diese Texte interessiert. Sie
zeigten ihnen, was ein Anderer – einer, der den Film nicht gemacht, und
auch nicht daran mitgewirkt hatte, und der eigentlich auch kein professioneller
Filmkritiker sein wollte, der eher Poesie, oder einen Essai, oder wie ich
schon sagte, ein Protokoll als eine Filmkritik schreiben wollte –
was der also sah; auch, was er nicht sah; worauf er achtete, einschließlich
welcher “Details”, und wie er das verstand.
Kann sein, daß das, was ich schrieb, sie auch interessierte,
weil es eher ein linker “Aktivist”, jedenfalls ein Linker war, der das
schrieb, als ein “cinéaste”.
Linda Lombardi: Was hast Du von ihnen dann gesehen,
nach dem Bach-Film?
AW: Ich erinnere mich, daß ich Der
Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter in München
sah. Massimo Baciaglupo hatte vorgeschlagen, daß wir uns dort treffen,
damit ich seine neuen Filme sehe; er zeigte sie auf diesem Ersten Treffen
unabhängiger europäischer Filmmacher. Wir übernachteten
damals bei den Heins, die auch ihre Filme zeigten, ebenso wie zum Beispiel
Kurt Kren und Valie Export. Das war auch 1969, genau wie Bochum, denke
ich; ich kann das möglicherweise durcheinander bringen. Vielleicht
war diese Begegnung mit einem “Straub-Film” dort in München
etwas, das vor der Straub-Retrospektive in Bochum geschah. Jedenfalls behalte
ich diesen in München gesehenen Film als den schönsten der frühen
Filme von Danièle und Jean-Marie in Erinnerung. Seine Radikalität
der Haltung, des Engagements, die durch die Schönheit der frames
und
takes
[also der Einzelbilder und Einstellungen, L.L.] nur um so klarer
wird... Besonders übrigens in der letzten Einstellung, nach jenem
Schuß, der so befreiend ist: der Blick geht nach oben, zum Himmel,
den Wolken, und Bäumen mit ihrem im Wind zitternden Blattwerk. Man
spürt eine Sehnsucht, ein Verlangen, etwas Altes, Bedrückendes
hinter sich zu lassen, neu zu beginnen, in einer neuen Welt voller Unschuld.
Das ist ganz selten in Filmen spürbar, oder in der Literatur, oder
der außerliterarischen, außerfilmischen Wirklichkeit: dieses
Verlangen, vielleicht auch dieses Wissen, daß etwas Utopisches nicht
Utopie bleiben wird...
Linda: Du hast dann Othon gesehen?
AW: Ja, aber ich glaube, im Fernsehen. Ich weiß
nicht mehr, ob ich etwas dazu schrieb. Vor dem Fernseher gelang das nie
so, wie im Kino... Einmal schrieb mir Jean-Marie, daß in Bielefeld,
in einem Kino am Bahnhof, das normalerweise nicht für ein gutes Programm
bekannt war, ein Film von ihm lief. War das Othon? Ich weiß
es nicht. Ich bekam dann auch von ihnen die Übersetzung des Corneille'schen
Stücks zugeschickt.
Linda: Du hast ihnen auch Gedichte geschickt, glaube
ich. In den Cahiers gibt es Dein Gedicht zu Moses und Aron,
das von Jean-Marie übersetzt wurde, und dann von jemandem, für
diese spanische Filmzeitschrift.
AW: Ja, dieses Gedicht – und damals schrieb ich
auch einen Prosatext zu Moses und Aron. Für mich war
das ein Film, der von der Befreiung der Unterdrückten sprach. Nicht
nur in der Dritten Welt, auch bei uns. Der Befreiung, die geschehen würde,
wenn die Fleischtöpfe Ägyptens – die ja auch die Israeliten nicht
wirklich in die Finger bekamen, bevor sie aufbrachen und die Wüste
wählten – ihre Verführungskraft verlören. Wenn das seine
Wirkung verloren haben würde, die Konsumgesellschaft, der Amerikanische
Traum, dieses nie wirklich eingelöste, falsche Versprechen, das Gleichheit
vorgaukelt, während man die Ungleichheit verteidigt. Auch mit Waffen.
Ich habe übrigens Jean-Marie auch andere Gedichte
geschickt, zum Beispiel eine Fotokopie der Texte, die dann später
in dem Band Gedichte aus einem dunklen Land veröffentlicht
wurden. Jean-Marie schrieb zurück: vielen Dank … für die guten
Gedichte. Er unterstrich gut.
Das hat mir schon etwas bedeutet, denn die Reaktion bei
Erich Frieds Verlag in Düsseldorf, dem Erich Fried das Manuskript
'81 oder '82 schickte, war negativ. Und beim Rotbuch-Verlag war das Echo
zwiespältig. Man könne schon einen guten Gedichtband d'raus machen,
schrieb Gabriele Dietze – damals Lektorin beim Rotbuch Verlag –, aber die
Texte seien nicht nach ihrem Geschmack: Sie vermisse das Geheimnis in ihnen.
Es haben eigentlich zuerst nur Nicolas Born, Jürgen Theobaldy, Erich
Fried, positiv darauf reagiert, dann auch Peter Klein von der Buchhandlung
Backhaus, und Juan Rodriguez-Lores sowie Gerhard Fehl, als ich das in Aachen
im Karmán-Auditorium las. Schließlich Jean-Marie und
Danièle. Und Peter Marcuse, der mich durch ein Symposium in
Bad Homburg kannte, und dem ich das auch schickte. Der Lektor vom Claassen-Verlag
reagierte übrigens empfindlich auf Zeilen, die er vielleicht als poetische
Sympathiekundgebung für die RAF las. Ich hatte Gespräche mit
jemandem, der als politischer Flüchtling über Chile nach Deutschland
gekommen war, und der in Guatemala in der Guerilla gekämpft hatte,
verarbeitet. Und es gab roten Ketchup, wie in Filmen Godards, in einem
Gedicht, das eine Straßenszene in Aachen – ein offener Lieferwagen
vor einem Metzgerladen, darin ein totes Schwein – mit Erinnerungen an den
Film Gloria collagierte; eine Hommage an Cassavetes. Und
dann gab es in einem anderen Text eine heftige Reaktion auf den Voyeurismus,
zu dem Der letzte Tango den Zuschauer, das heißt, den
Bourgeois, verführt. Da war dann die Rede von der Vision, Kugeln zu
pumpen in die Leiber der Bourgeoisie. Das war Wut über eine Weise,
Filme zu machen und eine Weise, Filme zu rezipieren. Und der Text benutzte,
wie Godard, Gewalt als Metapher. Das kam nicht gut an, 1982.
Übrigens hat Danièle, nicht allzu lang vor
ihrem völlig unerwarteten Tod – unerwartet, obwohl ihre letzte Karte
im Nachhinein wie ein ahnungsvolles oder wissendes Adieu klang – über
einen anderen Gedichtband, den sie erhielt, The Kranenburg Poems,
gesagt: "Das ist Dein schönster Gedichtband." Ich habe
mich manchmal gefragt, ob sie die Texte meinte oder die Reproduktionen
von Lithos meines Freundes Angelo Evelyn...
Linda: Jetzt hast Du ziemlich viel von Deinen Gedichten
erzählt, und von Jean Maries und Danièles Reaktion darauf.
Kehren wir zurück zu den Filmen.
Wann sahst Du eigentlich Geschichtsunterricht?
AW: Keine Ahnung. Der Text ist verschütt gegangen.
Die Erinnerung an den Film nicht, gottseidank. Ebenso bei Moses und
Aron. Ich weiß nicht mehr, wann und wo ich das gesehen habe.
Auch hier ist der Prosatext nicht mehr da. Möglicherweise hat ihn
Jean-Marie noch, entweder in Paris oder in Rom. Die Umzüge sind's,
durch die manches verloren ging. Manche Filme habe ich auch gar nicht sehen
– Fortini/Cani nicht: da war ich in Taiwan, während
der Film hier in Deutschland im Fernsehen oder im Kino lief. Dasselbe gilt
für Toute révolution est un coup de dés
und für Dalla nube alla resistenza. Ich war noch in
Taiwan. Zu früh/zu spät kam 1980, und das war eine
Zeit, da war gerade meine Mutter gestorben, ich driftete,wußte nicht,
was ich mach. Keine Arbeit, keine Wohnung zunächst. Hab dann einen
Job gefunden, an der VHS in Gelsenkirchen, an fünf Tagen in der Woche
jeweils 6 Stunden unterrichtet: Deutsch für Kambodschaner. Die Fahrt
mit Bus und Straßenbahn von der Bochumer Hustadt nach Gelsenkirchen
dauerte damals 2 Stunden. Ich war K.O., wenn ich zurückkam. Film kam
nicht mehr vor. Der erste Film, den ich wieder sah, in Hamburg, war Klassenverhältnisse.
Jean-Marie hatte mir geschrieben. Christine und Germain, in Amiens, hatten
gerade Germains Ältesten, Césaire, zu mir nach Aachen geschickt,
damit er in den Ferien ein bißchen von Deutschland sieht. Wir fuhren
also beide nach Hamburg. Ich weiß nicht, was Césaire von dem
Film mitkriegte, er konnte ja kein Deutsch. Aber sehen konnte er. Vielleicht
kann man den Film auch gut sehen und hören, wenn man kein Deutsch
kann. Vielleicht inspirierte ihn etwas; sein Name, der eines Dichters,
schien's zu versprechen...
Danach sah ich Der Tod des Empedokles. Wo?
In Bochum? Das muß also der Film gewesen sein, zu dessen Vorführung
Jean-Marie und Danièle wieder nach Bochum kamen. Doris bekam nach
der Vorführung den Blumenstrauß von Danièle, den diese
gerade erhalten hatte. Wer war eigentlich damals, 1986, derjenige, der
die beiden einlud? Chiulli? Giulli?
Linda: Ich glaube, Der Tod des Empedokles
war der letzte Film, den Du von den beiden sahst und über den Du schriebst?
AW: Fast. Danach war ich noch in Würzburg,
um den Antigone-Film zu sehen. Das war wirklich der letzte
Text zu einem Film von Jean-Marie und Danèle. Die 90er Jahre waren
stressig; ich stand um 8 auf, war um 9 im Büro, nahm meist den letzten
Bus um viertel nach 11 und war kurz vor Mitternacht zuhaus. Manchmal arbeitete
ich auch länger, und lief dann nach Haus. Mit Fernsehen war nichts
mehr, und ins Kino kam ich kaum noch. Das ging so, bis 2005. Danach: Arbeitslosigkeit,
Rente, etwa 530 Euro im Monat, im Anfang. Es läßt keinen Spielraum
für Fahrten irgendwohin, um einen Film zu sehen. Also hab ich die
Zeitschriften im Internet gemacht. Doch ich hab das vermißt: ein
Kino wie das Diana oder das kleine Kino am Kaiserplatz in Aachen. Oder
das Abaton in Hamburg. Den Filmclub in Bochum. Filme, auch die von Jean-Marie
und Danièle, brauchen die Vorführung in Kinosälen. Das
Fernsehen ist nur ein schlechter Ersatz.
Linda: Einmal hast Du erwähnt, daß Du
in Würzburg in der Diskussion nach dem Film was sagen wolltest zu
der Struktur des Films, und daß Du Dich verheddert hast, und die
Leute aus gutem Grund spöttisch reagierten, und daß Jean-Marie
Dich da verteidigt hat, daß er sagte: "Daß ist kein Idiot..."
Und dann habe er nachher, als ihr Euch gegenüberstandet, auf der Straße
– Danièle, Jean-Marie und Du – ziemlich ärgerlich oder
unwirsch zu Dir gesagt: "Du bist also auch so ein Film-Fritze..." Und das
habe ziemlich weh getan...
AW: Aber er hatte ja recht. Ich hatte wie ein Filmfritze,
wie ein Cinéaste, zu reden versucht. Anstatt zu sagen, was diesen
Film, Die Antigone des Sophokles..., zu einem emanzipatorischen,
radikalen Film macht.
Linda: Du verteidigst Jean-Marie, wenn er sagt:
der letzte Bauer im bairischen Wald versteht das...
AW: Ja, weil er recht hat. Es ist ganz klar: die
Menschen sind gleich geboren, mit gleichem Potential, zu denken, zu verstehen,
und menschliche Gefühle sind Menschen von klein auf nicht fremd. Verschüttet
werden, oder deformiert werden kann viel. Das passiert mit vielen von uns,
unter dem Druck der Verhältnisse. Geschärft werden kann der Verstand
ebenfalls, unter dem Einfluss der Verhältnisse. Man kann ein wacher
Gauner werden, ein wachsamer, außerordentlich cleverer Geschäftemacher,
aber auch ein wacher Kämpfer für Gerechtigkeit.
Es ist eine Illusion zu glauben, daß die sogenannten
Gebildeten, die Bildungsbürger oder auch die Intellektuellen, unbedingt
klarer denken. Oder unbedingt etwas wie einen Film, oder einen Roman von
Kafka wie zum Beispiel den Amerika-Roman, oder auch ein Gedicht von Brecht
besser verstehen als ein Arbeiter. Sie haben meist mehr Hintergrundwissen,
haben einen anderen Zugang. Aber vielleicht verstehen sie trotzdem manches
schlechter als der Arbeiter. Die Klassenlage, Klasseninteressen –
das kann Sperren aufbauen, kann das Verständnis erschweren, und das
kann es verbiegen.
Wenn wir nicht von Büchern, nicht von Filmen reden,
sondern von gesellschaftlichen Entwicklungen, was ließ so viele Akademiker
geradezu blind begeistert sein vom Nazismus?
Mein Vater, kein Studierter, aber ein aktiver Linker,
bis seine Teilnahme am Versuch, Hans Litten zu befreien, aufflog, hat mir
in den 50er Jahren oft gesagt, wie unübersehbar es war, daß
fast die Gesamtheit der deutschen Akademiker, sei es aus ihrer nationalistischen
und antisemitischen Grundtendenz heraus, sei es aus Opportunismus, 1933
in die Nazi-Partei ging. Wenn sie nicht schon vorher drin waren. Er hielt
nichts
von ihnen.
Er hat aber auch nicht die Arbeiter, oder die "Massen"
idealisiert. Hat in Reinickendorf vor '33 mit Arbeiter, die bei den Nazis
waren, debattiert. Sie wollten, oder konnten nicht sehen, daß diese
Leute, die sie bejubelten, sie in den Krieg führen würden. Nach
'33, die Genossen, in seiner Zelle, tauchten alle ab. Schmissen ihm, als
Propagandaleiter, zentnerweise Propagandamaterial auf den Dachboden des
Mietshauses, ohne ein Wort zu sagen. Sie hätten sagen können:
Mensch, wir haben Schiß. Was sollen wir mit dem Zeug machen? Sie
hätten wissen müssen, was es bedeutet, wenn der Naziblockwart
das Zeug findet. Von rund 130 Genossen war nur einer, Hermann Nowatzki,
mit ihm nachts unterwegs, um bei der letzten Wahl, als die Partei schon
verboten war, Plakate zu kleben. Sie hatten die Null-Achter in der Manteltasche,
hätten geschossen, statt sich wie Schafe abführen zu lassen,
hätte man sie gestellt.
Ob die Straubs die "Massen" idealisieren? Ich denke, nein.
Aber sie sind mit ihnen solidarisch, setzen ihre Hoffnung in die Möglichkeit
der Selbstemanzipation der Unteren.
Auch ich mag nicht mehr die Unteren nur positiv sehen.
Mich selbst auch nicht, das ist klar. Wir sind unterwegs, Lernende, lernend
aus unseren Erfahrungen. Eine der Erfahrungen ist, daß es sogenannte
einfache Menschen gibt, die klar denken, die klar fühlen, die unverführbar
sind. Darin liegt auch eine Schönheit, und ihre Reinheit ist nicht
formal, nicht l'art pour l'art.
Meine Großmutter mütterlicherseits, Jahrgang
1888, eins von elf lebend von ihrer Mutter zur Welt gebrachten Kindern,
ein Landarbeiterkind, Küchenhilfe bei “Herrschaften”, früh verwitwet,
dann Putzfrau im Rathaus und später, wiederum Putzfrau, in einer Textilfabrik,
stand beeinflußt von ihrem Mann, einem Elektriker, negativ zum Ersten
Weltkrieg. Anders als Franz Marc, oder Macke, und all die anderen, die
belesen und gebildet waren. Als ihr Mann eingezogen wurde, 1914, half sie
ihm, der Armee zu entkommen. Als er in einer Möbelfabrik arbeitete
und der große Zimmerleute-Streik war, damals, in der Weimarer Republik,
da stand sie zu ihm. Als er starb, 1929, nachts verunglückt mit dem
Motorrad, auf dem Weg zu einem Tanzvergnügen, oder was weiß
ich, während sie zuhause war, da weinte sie vermutlich. Als meine
Mutter, acht Jahre alt, sie 1933 kritisierte, man sage jetzt nicht mehr
Guten Tag, “das heißt doch Heil Hitler, Mutter”, da hat sie das ignoriert.
Und obwohl sie im Herforder Rathaus als Putzfrau das Geld für sich
und zwei Töchter verdienen mußte, nicht ein einziges Mal zwischen
1933 und 1945 Heil Hitler gesagt. Man mußte sich nicht anpassen;
aber es brachte Vorteile. Diese Großmutter hat sich gefragt, was
aus der jüdischen Familie geworden ist, bei der sie mit 16 in Halle
Dienstmädchen war; sie taten ihr leid. Und sie mochte die braun Uniformierten
nicht. Dazu benötigte sie kein Abitur. Während der Kubakrise
fragte ich sie, die anders als ich – in dessen Wohnung es kein Fernsehgerät
gab – jeden Abend bei der älteren Tochter vor dem Fernseher saß,
was sie von Fidel Castro halte. Die tägliche Berieselung durch das
Fernsehen hat, denke ich, keine große Wirkung auf sie gehabt;
ihre Lebenserfahrung, ihre Denkfähigkeit und ihr integres Gefühl
standen dem im Wege. Sie sagte: “Ich glaube schon, daß der was für
die kleinen Leute tut.” Sie war Sozialdemokratin, sie hoffte irgendwie
noch, daß "jemand" was für die Unteren tut, wußte noch
nicht, daß die sich selbst emanzipieren müssen. Aber sie
erinnerte sich voll Trauer an ihren Cousin Schiele – einen der roten Arbeiter,
die 1923 revoltierten; er wurde zusammen mit anderen von den Freikorps-Leuten
(vielleicht alles Studenten) bei Hettstett erschossen. Sie sagte von den
erschossenen Arbeitern: “das waren nicht nur Kommunisten, da rebellierten
auch Sozialdemokraten.” Arbeiter, eben. Gegen die Republik, die keine richtige
war – auch dank Ebert und Scheidemann.
Als Student agitierte ich sie Ende der 60er Jahre, und
sie, die ich liebte über alles und die mich liebte, sah mich mit einmal
kühl an, wie einen Fremden: “Und wenn ihr die Macht habt” – ihr linken
Studenten und ihr Ex-Studenten, und die Intellektuellen..., das schwang
mit – “dann seid ihr unsere Herren.” Halb fragend, und sehr
skeptisch, der Ton. Ihr – und wir. Oben und unten. Wir Arbeiter.
Sag nicht, daß sie nichts verstand. Und dabei hatte
sie nur die einklassige Dorfschule besucht, in der Zeit des Kaiserreiches,
in einem kleinen armen Nest im Ostharz.
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