In Kritias (und Hermokrates) taucht
die herrschende Klasse, die uns bereits ein Film wie Geschichtsunterricht
vor
Augen fuehrte, wieder auf: machtfixierte, machtbesessene Menschen, "die
nicht lieben koennen" - sich keine Bloesse geben, da durchgaengig verstrickt
in einen Kampf um Kontrolle: ueber sich, die eigenen Lebensaeusserungen.
Und ueber Andere...
'Gestellte Leben'. Und deshalb
kein Wunder, dass mit Reagan ein Mensch des show business US-amerikanischer
Praesident wurde, und dass Kohl von dem PR- (oder public relations-)
business, dem Geschaeft der Meinungsmache, als jemand spricht, der als
Nutzniesser dieses Geschaeft von innen kennt. Der
sich drauf stuetzt. Auf speechwriters. Leute, die sich verkaufen,
indem sie Reden schreiben, die weder ihrer eigenen noch des Bestellers
Einsichten verkoerpern, sondern ein steriles Produkt sind, auf seine Verkaufbarkeit,
seine 'Eingaengigkeit' hin abgeklopft und ausgewaehlt... Wenn die herrschende
Klasse sich ins Bild setzen, inszenieren, als visuelle 'Botschaft' aufs
Videoband bannen laesst, dann will sie, dass sie erscheint als Ware,
die verkaufbar sein soll wie ein Waschmittel, angepriesen mit denselben
sinnentleerten Spruechen.
Der Kampf um die 'Koepfe' ist ein
zutiefst totalitaerer, terroristischer Kampf, ein Strukturmerkmal der liberalen
buergerlichen Demokratie, die den 'Wettbewerb' als Konkurrenz unter
Warenanbietern verallgemeinert und den 'Kunden' der 'Gedanken-Waren'
zum Opfer und 'Freier' in einem Milieu der allgemeinen Prostitution erniedrigt.
Es ist ein Spiel, das mit autoritaeren Anspruechen - wie dem Anspruch auf
Marktbeherrschung, Eroberung von alles entscheidenden Marktanteilenin
den 'Koepfen' - ohne jede tatsaechliche Offenheit, jeden
Respekt vor der Denkfaehigkeit und dem Denken der Anderen - getrieben wird.
Ihre Freiheit der Wahl, ihre Autonomie als denkendes und fuehlendes Wesen
wird ideologische Fiktion, wo wenige Anbieter sowohl die Produktion von
'Meinungen' wie die Kanaele der Distribution - und damit weitgehend
die
Weise der Meinungs-Aneignung durch die 'Konsumenten' kontrollieren.
Der Faschismus trieb die Monopolisierungs-
und Kontrolltendenzen in der Sphaere der von 'oben' nach 'unten' (von den
'wenigen' zu den 'vielen') weitergeleiteten herrschenden Gedanken - auf
seine Art - lediglich auf die Spitze, um sich von der postfaschistischen
Aera beweisen lassen zu muessen, dass er noch laengst nicht das non plus
ultra der Manipulation der Massen darstellt: zu sehr rissen die Fakten
einer blutigen Repression, die Fakten des Kriegs und des Genozids gewaltige
Loecher in die Fiktionen, an denen sein Propaganda-Apparat arbeitete. In
der postfaschistischen (und tendenziell uebrigens auch in der post-stalinistischen)
Phase - letztere ein Zerrbild des Sozialismus, nachdem schon der Stalinismus
sein Zerrbild war - wird die Uniformitaet der entmuendigten, ihres citoyen-Charakters
entkleideten 'Gefolgschaft' rueckverwandelt in die scheinbar ausdifferenzierte,
aber wesensmaessig der Konformitaet verwandte 'Vielfalt von Kunden',
welche in ihrem Konsumverhalten reflexartig auf jene Unzahl von Impulsen
reagieren sollen, auf die zu 'antworten' ihnen ein Journalismus der (politischen
und anderen) Moden ebenso wie eine von Lohnschreibern verratene Kunst-
und Kulturkritik vormacht.
Die 'Medien' sind in dieser Konstellation
im Prinzip Kanaele einer Steuerung, Einbahnstrassen der Signaluebermittlung,
nicht Plattform fuer freie - oder um ihre Befreiung ringende - Subjekte.
Die Realitaet in den 'realsozialistischen' Staaten unterscheidet sich dabei
nur graduell von der in den Zentren des Kapitalismus (oder in den meisten
Laendern der 'Dritten' Welt). Was es gibt, sind Ansaetze,
einer
Ueberwindung
der 'Steuerung der Massen', die betrieben wird durch CBS/BBC/NBC/NHK,
durch AP und AFP, WARNER BROTHERS und MOSFILM : sind Momente des Denkens,
das sich reibt an der Wirklichkeit: am fruchtbarsten in sozialen Kaempfen
der 'Massen'. Wallraff sah solche Ansaetze, als - waehrend des grossen
Bergarbeiterstreiks der 70er Jahre - schwedische Bergarbeiter im Fernsehen
(!) sich, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, oeffentlich und mit
Verstand artikulierten. Die Vertretung ihres Standpunkts also nicht anderen
ueberliessen, sondern vor der Kamera sich ihren Standpunkt im Gespraech
erarbeitetenund
gleichzeitig diese Arbeit - ihres Denkens - spuerbar machten.
Vielleicht gibt es aehnliches in
Nicaragua, oder auf den Philippinen, in Cuba, oder unter den Hafenarbeitern
von Genova, in den Gemeinden um Wackersdorf und in Gdansk.
Vielleicht gibt es das, waehrend
ich dieses schreibe, in der Wohnung nebenan und unter mir, wo jetzt eine
alte Frau mit ihrem Enkel ueber die bitteren und schoenen Ereignisse ihres
Lebens spricht: ein Leben, dass das einer Landarbeitertochter gewesen sein
kann, ein Leben als Hausmaedchen, Frau eines laengst verstorbenen Arbeiters,
Witwe, die ihren Mann um Jahre ueberlebte, die sich erinnet, wie ihre 8jaehrige
Tochter ihr sagte: "Das heisst doch Heil Hitler, Mutter!", wenn sie mit
ihrer Sturheit und Klarheit und Unverfuehrbarkeit die Nachbarn gruesste
mit einem 'Guten Tag'. Fuer diese Art der Integritaet kann das Wissen,
das eine zweiklassige Dorfschule 'vermittelt', vielleicht nicht ausreichen:
Es gehoert die Schule eines Lebens dazu, das sich fortsetzt, jenseits der
Mauern einer sogenannten Volks- und oft nur Volksverfuehrungs- Schule.
Aber es ist eine Illusion, denke ich, dass die Gerichtsassessoren, die
Gymnasiallehrer, die Verwaltungsbeamten in den Rathaeusern, die Universitaetsprofessoren,
die Schauspieler und Schauspieldirektoren und UFA-Manager 'unverfuehrbar'
waren, weil sie die Oberschule besucht oder studiert hatten.
3. April 1987 |