Gary Maahs
Unterwegs, oder: die Begegnung mit
einer Unbekannten
Über eine Photo-Montage/Collage von Doris Schöttler-Boll
Doris Schöttler-Boll, ‘Haut’ (1988)
Photo by Erwin Wiemer.
Die überaus groß dimensionierte Arbeit betrachtend,
bin ich versucht, zu sprechen von der Gegeneinandersetzung – oder ist es
nicht eher die Zusammenfügung? – von Schönheit und Schrecken.
Von einem Erschrecken im Moment einer eigenartigen Schönheit. Auch
von einer – durch sie provozierten ? – Nachdenklichkeit. Warum, dieser
vom Rot der Industrien, ihrer Brände und Explosionen, überflutete
Himmel zur linken, der uns wie in einer überwältigenden Totale,
wie durch ein riesiges Panoramafenster betrachtet erscheint? Durch dessen
Wolken, nur bruchstückhaft noch, und giftig, gelb, nicht Sonne, aber
doch der Widerschein ihrer Leuchtkraft zu brechen scheint. Während
sich, andererseits, zur rechten, gedrängt an den Rand dieser Welt,
hinter gebogenen Eisengirlanden-Gittern, das Blau des Himmels im
Rücken einer jungen Frau (der einzigen sichtbaren Anwesenden dieses
Orts) den sich zu ihm erhebenden Augen des Betrachters nur ausschnitthaft
zeigt. Es ist unbestreitbar: wir sehen diesen blauen Himmelsausschnitt,
als richte sich der Blick – unserer, nicht ihrer! – nach oben, in
die Lücke eines Fensters, jenes monumentalen Hauses der erinnerten
und erahnten, gestrigen und zukünftigen Welt, vielleicht eines Gefängnishauses,
das sie bewohnt. Eines Hauses, mithin, in dem sie gefangen sein könnte,
oder doch getrennt, von den klaren Tagen einer vergangenen Heiterkeit,
den himmlischen Blaus des Sommers und der Anblicke ziehender Zephyruswolken,
die sich aber jetzt, wo die junge Frau, ihnen abgewandt, vor uns auftaucht,
langsam aufzulösen scheinen wie sich zerfasernde, dünne Bäusche
einer weißlichen Watte, durch die jetzt ein letztes, nur noch
bläßliches Leuchten der Weite des Himmels dringt... Sie aber
– den Rücken zum vergitterten, bläulichen Himmel – schaut
ruhig und doch skeptisch, versonnen beinah, zu etwas, das wir nicht einmal
in diesem Moment erahnen können, ist es doch „jenseits“ der Gegenwart
des Bildraums: sei es nun ein Jetziges oder Vergangenes, sei es außerhalb
von ihr, oder in ihr, oder beides zugleich.
Die Struktur der sichtbaren Welt, der wir uns konfrontiert
finden – jene, die das Andere (sei es nun ein Gestern, Heute,
oder Morgen), die Schönheit und Schrecken, Liebe, Trauer und ungeahnten
Verrat, die alles zu vereinen und zugleich zu trennen scheint – ist sie
der Gegenstand der Gedanken, der Blicke, Bezugspunkt eines Bewußtseins,
nämlich jenes der jungen Frau, das erscheint wie ein Leuchten, in
den sanften, so dunklen Augen, oder erklingt wie ein Vogelruf, in der Stille,
zwischen Wachen und Traum? Hineingedrängt oder gerückt aus eigenen,
wenn auch nicht ganz freien Stücken, in die Rolle der Marginalen,
so ist sie dort, die Stille, Nachdenkliche, nicht von ungefähr am
unteren Rand, während groß und mächtig in ihrer Klarheit
die Schwärze der Träger einer Gebäudestruktur uns vor Augen
tritt: sie, die das Heute vom Morgen scheidet, rot und blau, zwei Tageslichtwelten,
wie sie differenter nicht sein könnten. Während, als sei
doch die Frau mit dem versonnen nüchtern prüfenden, und dabei
nachdenklichen Blick der Fluchtpunkt der Räume, die Kraft der Linien
den Fernen zuströmt. Doch ihr Blick? Ruht fast in sich? Geht ganz
in die Nähe des Raums – zu jenem Ort neben uns, im Betrachterraum.
Also auch: aus dem Bild, in seine im Unausgesprochenen, im Ungezeigten
bleibende Welt. So zarte, verwundbare, ja verletztliche Augen nähern
sich ihm, dem „vor ihr“, das sein muß, dort: so nah, unsichtbar,
und getrennt... Verletzlich bin ich, sagt der Blick. Und bin doch wach;
verfolge, voll Trauer, voll Schmerz, die Verläufe der Welt. Noch im
tagträumend hellsichtigen Wachen. Und weiß es längst, was
sie nicht weiß: was auch wir nicht wissen. Wir sind unterwegs. Der
Koffer der Wünsche und Schrecken steht, NEIN, SCHWEBT riesig vor dem
blutroten Orange des Himmels. Kündet von Bränden, von Flucht.
Kündet von ferner Sehnsucht, von Lüsten. Enthält sein Geheimnis
– wo Leben und Liebe und Tod sich berühren. Doch NEIN, wir wissen
es nicht – ahnen’s noch nicht mal. UND WIE EINE VERLORENE sieht sie
hinaus in die Welt, vorbei an dem Koffer, den Bränden, läßt
all das Geseh’ne zurück. Um zu blicken, ins Neue. Wie aber sehen wir
sie an? Wie sehen wir sie? Als eine Verlass‘ne? Und verstehn nun
– nichts?
Essen, im Sommer 1989
Anmerkung: Das Wort HAUT - gestempelt auf einen Koffer - ist ganz offensichtlich
ein Wort der französischen Sprache, es bedeutet OBEN. Der alte
Koffer, der Spuren der Abnutzung trägt, führt den Betrachter
zurück in eine andere Zeit - jene, der er entstammt, was heißt:
Vorkrieg und (Zweiter) Weltkrieg, Europa. "Haut" - das Wort
- aber evoziert mehr: Das Berührbare, den berührten oder doch
berührbaren Menschen, menschliche Nähe, Verletzbarkeit. Und auch
einen Schrecken. Die Erinnerung an Lampenschirme, gefertigt aus menschlicher
Haut. Die industrielle Vernichtung, die Todesfabriken des Jahrhunderts.
Der Koffer - dann - eine Evokation der Deportationen, was ein bürokratisches
Wort ist für Angst, Verfolgung, Sich Verstecken müssen, oder
in den Widerstand gehen, für Razzien, nuit et bruillard, Verhaftungen,
Getriebenwerden zum Bahnhof, Verladenwerden wie Vieh, in Güterwaggons.
Die Fahrt ins Nichts oder vielmehr, die Unvorstellbarkeit dessen, wozu
Menschen fähig sind. Die blutroten Himmel und der Rauch über
den Krematorien.
Die mit der phrygischen Mütze - das ist eine andere Zeit, im selben
Bild. Sie erinnert. Sie träumt, sehnt sich nach einem ganz anderen
Anfang, oder Sein. Sie trauert.
(AW, Juni 2015) |