Magdi Youssef 

Beiläufige Kritik eines Artikels von Taher Ben Jelloun, betitelt: Die Araber in Frankfurt: Zirkus ! Zirkus ! (in: Die ZEIT vom 2. Sept. 04) 

Ob es jedes Schriftstellers Sache ist, sich  kulturwissenschaftlich im vergleichenden Sinne zu äußern, selbst wenn es sich um ein solches literarisches Kaliber handelt wie bei Taher Ben Jelloun, bleibt wirklich dahin gestellt. Schon in der Literaturkritik vermögen die meisten Schriftsteller sich kaum adäquat zu ihren Werken zu äußern. Noch viel weniger allerdings, wenn es um solche Gebiete geht wie die arabisch-westlichen (oder spezifischer, die arabisch-deutschen)  Kulturbeziehungen der Gegenwart: ein Gebiet, das leider von sehr wenigen Spezialisten im sozio-kulturell vergleichenden Sinne gekonnt behandelt werden kann. Die meisten Autoren, die sich hierzu äußern, sind entweder arabische Germanisten, oder aber deutsche Arabisten, wobei letztere, wenn es hochkommt –  neben ihrer Beschäftigung mit den alten Errungenschaften arabischer Kultur, ihrer sogenannten 'hohen' Literatur sowie den damaligen Naturwissenschaften –  sich auch mit der arabischen Literatur der Gegenwart befassen. 

Durch die Verleihung des Nobelpreises an den ägyptischen Romancier Naguib Mahfouz im Jahre 1988 ist die arabische Literatur der Gegenwart überhaupt erst in das Blickfeld westlicher Leser gerückt. Daß diese Vernachlässigung der arabischen Moderne in Ländern wie Deutschland nicht vom Himmel gefallen ist, und daß die neuere Hinwendung zur Rezeption der zeitgenössischen arabischen Kultur auch eine Geschichte der Auseindersetzung mit den hiesigen Vorurteilen impliziert, hat man heute fast vergessen. Denn von einer Anerkennung der modernen arabischen Literatur im westdeutschen akademischen Betrieb, zumal  in den orientalischen Fächern, konnte bis in die 1960er Jahre nicht die Rede sein. Der Schreiber dieser Zeilen, welcher ursprünglich Anfang der sechziger Jahre im Fachbereich Psychologie an der Universität zu Köln  promovieren wollte, wurde mit dem Vorurteil gegen moderne arabische Literatur konfrontiert, als er Arabisch zum Nebenfach für seine damalige Promotion wählte. Als das 'Modernste' in der arabischen Literatur galten damals für die typischen deutschen Arabisten Ibn Khalduns Werke, die aus der Zeit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert stammen. Danach schien es für diese Fachgelehrten an intellektueller Produktion in der arabischen Welt nichts mehr gegeben zu haben!  

Daß das nicht stimmen kann, wird klar, wenn man bedenkt, daß es z.B. eine ganze Reihe intellektueller und literarischer Strömungen in der arabischen Welt vor allem im 19. und 20. Jahrhundert gegeben hat. Diese haben sich, im Gegesatz zu den älteren Traditionen, vornehmlich mit westlichen Literaturen auseinandergesetzt. Viele Werke europäischer Literaten wurden ins Arabische übersetzt, ja es gab Nachdichtungen von hoher literarischer Qualität, und zwar vor allem aus dem Franzoesischen und dem Englischen. 

Die deutsche Literatur wurde erst später aus erster Hand, und zwar seit etwa Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, ins Arabische übersetzt. Vorher wurden deutsche literarische Werke zumeist auf dem Umweg über das Französische oder Englische ins Arabische übertragen. Der Schreiber dieser Zeilen war selber einer der ersten, die sich mit der Vorstellung deutscher Literatur im arabischen Raum befasste, und zwar seit Ende der fünfziger Jahre durch Direktübersetzungen aus dem Deutschen, mit jeweiligen Kommentaren und Einleitungen. Er fing damals an mit der Vorstellung der Antikriegsliteratur von Wolfgang Borchert, seiner Lyrik und seinen Kurzgeschichten, und vor allem mit dem Stück Draussen vor der Tür. Seine Übertragung dieses Stücks erschien, mit einem Vorwort (über den Autor und sein Werk) versehen, in Buchform im Libanon im Jahre 1962, nachdem es angesichts gewisser als blasphemisch angesehener, den 'lieben Gott' ins Spiel bringender Passagen Schwierigkeiten gegeben hatte, Borcherts Stück auf Arabisch in Kairo herauszubringen. Das Stück wurde dann schon bald, basierend auf der genannten Übersetzung, in vier arabischen Ländern aufgeführt. Erstmals 1962 in Baghdad. Dann 1970 in Tunis. 1994 im Libanon (wobei die historische Situation, die Borcherts Stück zugrundelag, transponiert wurde; es gab jetzt den Bezug zum libanesischen Buergerkrieg, und gleichzeitig wurde das Ganze 'nochmals übersetzt' in den arabisch- libanesischen Dialekt). Und schließlich 1998 auf der Bühne des Jugendtheaters in Kairo. 

Manche Kritiker behaupten, daß die modernen arabischen literarischen Gattungen auf europäische Einflüsse zurückzuführen seien, was m. E. viel zu vereinfachend,  wenn nicht sogar falsch ist. Denn es handelt sich vielmehr bei solchen Auseindersetzungen mit europäischen literarischen Produktionen um Bemühungen zum 'Überholen' eigener literarischen Traditionen, was aber keineswegs ihre totale Negation bedeutet, im Gegenteil. Denn auf diesen Traditionen fußen letztlich die modernen Produktionen arabischer Schriftsteller der Gegenwart, auch dann wenn sie meinen, das Erbe ihrer Vorfahren zu verneinen.

Selbst wenn man solch scheinbar eindeutig europäischen Namen begegnet, die arabische Literaturströmungen der Moderne bezeichnen, wie im Fall der Lyrikbewegung "Apollo" – einer Strömung im Kairo der dreißiger Jahre –  handelt es sich doch bei den damit bezeichneten Projekten und Phänomenen selbst um innovative Bemühungen. Es ging bei der "Apollo" genannten Bewegung und geht auch heute vielfach darum, die eigenen lyrischen Traditionen den neuen ästhetischen Bedürfnissen weltoffener arabischer Bürger adäquater werden zu lassen. Was dann zwar zu bestimmten Änderungen der herkömmlichen Lyrikformen führte, jedoch die neue Lyrik gleichzeitig darauf fußen ließ. Der dialektische Begriff des Aufhebens bei Hegel liefert m.E. eine passende Beschreibung dieses Prozesses.
 

Was aber Tahar Ben Jelloun bewegt und was er zum Streitthema seines Artikels erhebt, ist dies:  Wenn arabische Autoren in fremden, sprich europäischen Sprachen schreiben, wie werden sie in der arabischen Welt gesehen? 
Wenn z.B. Amin Maalouf oder Tahar Ben Jelloun auf Franzoesisch schreiben, oder wenn Ahdaf Sweif auf Englisch schreibt, werden sie dann als "Verräter" von ihren arabischen Zeitgenossen angesehen? Oder zählen sie zur arabischen Literatur in fremden Sprachen, und somit zu Trägern des arabischen Gesichtpunkts in den verschiedenen sogenannten Weltsprachen?

Der kulturpolitischen Orientierung des von der Arabischen Liga beauftragten Komitees, das mit  dem Frankfurter Gastprogramm befaßt war, zufolge, gibt es keinerlei Probleme diesbezueglich. Der auf Französisch schreibende Maalouf, sowie der deutschsprachige Kinderbuchautor Schami wurden beide zur Teilnahme am arabischen Programm in Frankfurt eingeladen, ganz so wie ihre arabischsprachigen Kollegen. Was daraus geschlossen werden darf, ist dies: daß die Arabische Liga, als Liga arabischer Regimes, nach jeglicher Möglichkeit sucht, die es erlaubt, mit anerkannten arabischen Literaten Brücken zum Westen zu schlagen, ja sogar sich mit diesem zu identifzieren. 

Dass die genannten Autoren aber, gerade durch ihr Verwurzeltsein in einem heterokulturellen, auch ideologisch anders geprägten Sprachraum (dessen Leser sie anzusprechen versuchen), sich  keineswegs mit den Arabern von heute identifizieren, geschweige denn mit ihnen auf Anhieb sympathisieren, dieser Tatsache hat das Komitee der Arabischen Liga kaum Rechnung getragen. Dass Amin Maalouf z. B. gewisse Konzessionen in seinen Romanen machen muß, um den typischen anti-arabischen, oft sogar rassistischen französischen Lesern 'entgegen zu kommen', dies wird gern von den offiziellen arabischen Organisatoren übersehen, da doch vor allem sein Bekanntheitsgrad zählt !! Wenn nun Maalouf nicht nach Frankfurt kommt, so liegt es nicht daran, dass er von der Arabischen Liga nicht eingeladen wurde, sondern es geschieht, weil er lieber in Paris bleiben möchte, um die Mitglieder der Academie Française für sich zu gewinnen, angesichts der bevorstehenden Wahlen besagter Akademie, da seine mögliche Mitgliedschaft zur Debatte steht! 

So leicht ist die Sache aber nicht, wie die Vertreter der Arabischen Liga es sich vorgestellt haben, die arabische Autoren ins Spiel bringen, gleichgültig, ob sie auf Arabisch oder aber Französisch bzw. Englisch schreiben. Die Sprache als solche ist zwar eine Heimat nicht nur für den Autor, sondern auch für seine Leser. Dies bedeutet aber nicht, daß das Schreiben in einer Sprache dasselbe sein muss –  gleichgültig, an wen man sich wendet. In Lateinamerika ist das besonders deutlich. Nicht von ungefähr sind die Theorien der Dependenz dort entstanden, auch, um den Abstand zu betonen zwischen den eigenen Literaturen und dem eigenen Sprachgebrauch  –  und andererseits den Literaturen und dem Sprachgebrauch der ehemaligen Kolonialmächte Spanien und Portugal. Zurückgewiesen werden zugleich die Hegemonieansprüche des 'Nachfahren' oder 'Nachfolgers' dieser Mächte, also des US-Amerikanischen und der USA von heute. Am Beispiel französischsprachiger Schriftsteller aus Quebec, die sich der 'weltweiten Verbreitung' wegen in Paris, d.h. in der Metropole der Frankophonie verlegen lassen, läßt sich ebenfalls zeigen, daß der Gebrauch einer bestimmten Sprache allein (hier also des Französischen) nicht die Nähe zu den Bedürfnissen der einheimischen Rezipienten (also der Frankophonen in Quebec) garantiert.  Damit ihre Texte dem 'Geschmack' französischer Leser in Frankreich entsprechen, müssen sich diese Autoren gewisse Änderungen an ihrem Text von Seiten der Pariser Verleger gefallen lassen. Das heißt im Klartext, daß sie sich auf eine Verfälschung ihrer eigentlichen Werke bzw. ihrer Weltsicht einlassen müssen, wenn sie berühmt werden wollen !! Hier sei beispielhaft auf  den Roman Rue Dechambault  der "Quebecoise"  Gabrielle Roy verwiesen. 

Warum Tahar Ben Jelloun diese für ihn und seinesgleichen ganz zentrale Frage in seinem Artikel verdrängt, kann ich mir gut vorstellen, denn er muss wirklich unter diesen ideologischen und Marktverhältnissen in Frankreich leiden !! Hätte er aber z.B. die frankophone Bevölkerung von Quebec auf Franzoesisch mit seinen Schriften anzusprechen versucht, dann hätte er wahrscheinlich nicht in dem Ausmaß solche entstellenden  'ideologischen' Konzessionen machen müssen wie sie im Normalfall in der Metropole notwendig sind.

Weit davon entfernt, diese Zusammenhänge zu begreifen, sind aber die Organisatoren des Frankfurter Gastprogrammes der Arabischen Liga.  Assia Djebbar, die fast ausschließlich auf Französisch schreibt, wird von ihnen zur Repräsentantin der arabischen Literatur von heute gewählt, und zwar zusammen mit dem auf Arabisch schreibenden Edward El-Kharrat. Dabei figurierte sie sogar prominent an erster Stelle mit Vorstellung des Lebenslaufs und Eröffnungsreden auf der einleitenden Sitzung. Damit ist ein Signal der arabischen Regimes auf der Kulturebene gegeben, und zwar bezüglich der unverkennbaren Bereitschaft, das Eigene mit dem Verwestlichten (auch, aber nicht nur auf der Buchmesse in Frankfurt) zu amalgamieren, um damit zu einer  Formel des bedenkenlosen Akzeptierens des Anderen, sprich des Westens, zu gelangen. Die kritische Auseinandersetzung mit den westlichen Vorurteilen bedarf jedoch einer weitgehenderen Differenzierung als jener, die das Programm in Frankfurt vorsieht... 

Diese Haltung der Kulturbürokratien der arabischen Regimes steht im Gegensatz zum ihrerseits erklärten Vorsatz, den so oft im Westen gegen die heutigen Araber erhobenen und propagandistisch ausgeschlachteten Vorwurf, sie seien Terroristen und Fanatiker etc., in Frankfurt durch stichhaltige Argumente zu neutralisieren.
Statt dies wirklich zu tun, haben die Vertreter der Arabischen Liga sich auf ihre leichtfertige Identifizierung mit der hegemonialen Kultur in unserer heutigen Welt ziemlich unkritisch eingelassen, indem sie die Anerkennung jener Autoren, die Erfolg in den europäischen Sprachen erzielt haben, vor jede Anerkennung derjenigen Autoren setzen, die auf Arabisch schreiben, ohne sich nach den Gründen des Erfolgs jener zu fragen, die sich der dominanten europäischen Sprachen bedienen, und ohne gewisse Vermarktungsstrategien zu akzeptieren sowie gewisse Konzessionen zu machen...

Wenn sich zeigt, daß die arabischen Kulturbürokratien im Bereich der Literatur sich als unfähig erweisen, die eigenen Errungenschaften zu würdigen, so kann es kaum verwunders, daß sie sich in ähnlicher Weise auch gegenüber den heutigen Leistungen und Errungenschaften arabischer Forscher ignorant erweisen, wenngleich diese auf dem Gebiet der Naturwissenschaften zum Teil Weltniveau erreichen,  z. B. was die Nutzung von Meerwasser zur Bewässerung von Weizenfeldern (nach genetischen Bearbeitungsverfahren) angeht:  ein Projekt, welches von dem Ägypter Ahmad Mostageer, Professor für  Genetik an der Universität Kairo, durchgeführt wird. Oder nehmen wir die Entdeckung des arabischen Pharmakologen Prof. Raouf Hamid, der bereits vor einem Vierteljahrhundert in Libyen an der Universität Al-Fatih herausfand, daß entgegen den damals weltweit verbreiteten Normen der Food and Drugs Administration der USA das regelmäßige Einnehmen scharfer Paprika, also von Kapsaïn, mit jeder Mahlzeit (wie es der Küche und den Eßgewohnheiten der einfachen Bevölkerung Libyens entspricht), eher einem Magen-Darmgeschwür vorbeugt, als umgekehrt es hervorzurufen.

Statt auf solche Errungenschaften arabischer Wissenschaftler in Frankfurt hinzuweisen, rekurrieren die Veranstalter der Arabischen Liga auf die weit und breit bekannte alte arabische Wissenschaft und Technologie, wie sie vor mehreren hundert Jahren in Blüte stand, ganz so,  als wenn es sich an erster Stelle um die  alten und nicht um die heutigen Araber in Frankfurt handeln wuerde...
Natürlich, gegen die Vorstellung alter arabischer Errungenschaften auf diesem Gebiet ist nichts einzuwenden, auch dann nicht, wenn das Wissen darum auch im Westen keineswegs ein Novum ist, aber dafür den Beitrag heutiger arabischer Forschung auf naturwissenschaftlichem Gebiet zu ignorieren, selbst wenn Weltniveau erreicht wurde, das ist wirklich unverzeihlich. Um diese kulturellen Leistungen herauszustellen, dafür bedarf es nicht einmal der Einladung eines in den USA lebenden Nobelpreisträgers ägyptischer Herkunft wie Ahmad Zuweil,  sondern man könnte  in der arabischen Welt genügend  Naturwissenschaftler finden, die hier – in ihren arabischen Heimatländern – heutzutage manches entdecken, das zum Fortschritt auf diesem höchst bedeutsamen Gebiet in unserem Zeitalter beiträgt...

Was aber die ansonst überwiegenden literarischen Veranstaltungen mit arabischen Autoren auf der Buchmesse in Frankfurt angeht, so vermisst man einen Vortrag, welcher diese und ihr Werk in Zusammenhang bringt mit der Weltliteratur, wie man sie heute versteht bzw. von westlicher Seite bewertet. Ein Einbetten jener arabischer Texte, die in Frankfurt vorgetragen wurden, in ihre jeweiligen sozio-literarischen und soziokulturellen Kontexte wäre m. E. von Nöten, damit der westliche, zumal der deutsche Rezipient sie nicht einfach amalgamiet oder gar reduziert auf seine eigenen Wertsysteme, die in vielem abweichen von denjenigen der heutigen Araber.
 

Magdi Youssef, Präsident des Internationalen Vereins für Interkulturelle Studien (Bremen). Publikationen in sechs europäischen Sprachen sowie auf Arabisch: von ihm stammt u.a. auf Deutsch: Brecht in Ägypten: Versuch einer literatursoziologischen Deutung, 1976. Dieses Buch wurde in wichtigen Zeitschriften sowie mehreren europäischen Sprachen 15 Jahre lang  bis 1991  besprochen, wobei vor allem die kritische erkenntnistheoretische Methode Beachtung fand. Bis heute gilt es als wegweisend für Untersuchungen zur Brecht-Rezeption in der sogenannten Dritten Welt ("exemplary for any future investigation on Brecht's reception in the Third World"), wie schon der Germanist und Brecht-Forscher Reinhold Grimm 1977  in der US-amerikanischen Zeitschrift Monatshefte feststellte. 
 
 


 


Magdi Youssef am Mikrophon
 
 

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