KÖRPERSPRACHE. Eine ‚Organkomposition’
von Dieter Schnebel, uraufgeführt in der Neuen Galerie in Aachen am
24. März 1986
EINE NATURGESCHICHTE MENSCHLICHER KÖRPERSPRACHE nennt
er, Schnebel, sie und sagt, kurz danach, dies sei eine Art – beinahe geräuschloser
– Musik (silent music). Hat man seine Musik gehört, weiß
man, ahnt man zumindest, was er meint: daß die Kompositionsverfahren,
denen diese Musik sich verdankt, auch hier am Werk sind, wo es sich um
einen Ablauf von Bewegungen weder singender noch sprechender noch sonstwie
mit den Artikulationsorganen Geräusche erzeugender Körper in
der Zeit handelt.
Hier wie dort ist Zeit strukturiert, und erscheint in
Kompositionen wie ‚Maulwerke’ vor allem die Stille als Begrenzung
von sich verlangsamenden und beschleunigenden – Tonqualitäten verändernden,
Bezüge zwischen kombinierten und kontrastierenden Klangfarben, Tonhöhen,
Lautstärken variierenden – Abläufen der Artikulation dreier ‚Sprecher’
oder ‚Sänger’ oder ‚Tonproduzierer’, so ist es jetzt das Dunkel,
das die Bewegungen visuell (beinahe) auslöscht und neben und vor der
Stille am deutlichsten zäsurenbildend, das heißt, als Schnitt-
und Fusionspunkt wirkt.
Innerhalb der Teile des Ganzen, die so sichtbar/fühlbar/verstehbar
werden, stehen wieder Veränderungen (changes) und Spannungsverhältnisse
(tensions) sowie die Dynamik, die diesen eigen ist, im Vordergrund.
Mit „changes“ sollen hier die Veränderungen in der Zeit gemeint
sein: sich ändernde tempi, sich ändernde Energie der Bewegung
usw.: Phänomene, die in der einheitsbildenden Erfahrung,
im Erlebnis (und Bewußtsein des Erlebnisses) als in
Beziehung zueinander gesetzt und somit spannungsgeladen, Spannungen produzierend
erscheinen. Mit „tensions“ die Relationen im Raum, in ihrer Simultaneität:
die Bezogenheit der Körper, ihrer (wechselnden) Formen, ihrer Bewegungen,
in einer Art Momentaufnahme isoliert und korreliert zugleich. Dies sind
einigermaßen willkürliche Definitionen, die versuchen, dem Verlangen
nach sprachlichem Ausdruck, nach verbaler „Wiedergabe“ (Reproduktion) der
Erfahrung einer sich in Raum und Zeit ändernden, strukturierenden/strukturierten
Realität (des Werks) approximierend gerecht zu werden. Sie scheinen
dem Dilettanten, bar jeder technischen Terminologie, als genauso geeignet,
die musikalische Realität neuerer (und vielleicht aller) Musik zu
beschreiben wie strukturierte, in der Zeit realisierte Kunstwerke (Film,
Theater, Tanztheater, Organkomposition, Tanz usw.) überhaupt. Sie
leisten fast nichts, geht es darum, die Veränderungen in
uns, Zuschauenden, zu erfassen – oder die präzise Art der
Veränderungen im Werk zu bestimmen, die sie auslöst: die Übergänge
vom Wahrnehmen/Erfahren einer unglaublich von allem Aufgesetzten, bloß
Dekorativen gereinigten, klaren Schönheit, die einem fast den Atem
nimmt, zu Momenten der Neugier, des Humors, oder der Entzifferung von etwas,
das vielleicht Ironie signalisiert.
Ich erinnere mich jetzt an die Frau auf der Bühne
– ihr Körper gekrümmt zu einem schönen Oval, in schaukelnde
Bewegung versetzt, einer geometrischen Figur gleich, wie sie Arp hätte
schaffen können, während im Hintergrund, rechts, links, zwei
Männer auf dem Boden liegen: Kontrast, der die Wahrnehmung der „entgegengesetzten“
Zustände schärft, insofern jeder die abweichende Erscheinungsform
des anderen erhellt.
Dieses Prinzip schien wiederholt angewandt: besonders
deutlich, wenn, nach einem schnellen Positionswechsel der drei Spieler
(Akteure) in der zäsurierenden Dunkelheit, deren „Geschehen“
zwei Teile zugleich verbindet, die Figuren in fast absoluter Bewegunglosigkeit
verharren. Die Frau, hockend, vor der Schüssel mit Wasser, wie ein
Standphoto, ein Einzelbild eines angehaltenen Films: so deutlich
wahrgenommen in dem Einhalten der Bewegung, daß dieser eine
Moment isoliert erscheint – herausgenommen aus jedwedem Ablauf
– und der Wahrnehmung in einer poetisch-objektivistischen Klarheit
präsentiert.
Und zwar zugleich mit dem Gefühl des Wechsels, der sich vollzogen
hat, des Umschlags, der in uns – als Emotion – nachwirkt: die Unruhe des
Positionswechsels im Dunkel steht gegen das mitten in der Bewegung Erstarrte
der nachfolgenden Sequenz. Die Bewegung überlagert in uns die Stille,
das Unbewegte. Wirkt weiter. Und lässt zugleich den veränderten,
neuen Zustand schöner, klarer, deutlicher erscheinen.
Dann wiederum löst sich der Zustand des langanhaltenden
An- und Innehaltens auf: Die Darstellerin geht spielerisch um mit
dem Wasser in der Schüssel vor ihr; das Fließen der Bewegungen
der Hände und Arme, die Wasser schöpfen, die emporheben und loslassen,
das Fließen oder „Regnen“ des nicht festhaltbaren Wassers, das eine
perlende, zerreißende Schnur bildet, vereinen sich zum differenzierten
Vorgang, zur komplexen Bewegung, die der Ruhe folgt. Im Hintergrund – nein,
einfach an anderem Ort im kompositorisch genutzten Raum der Bühne
– ist sie, diese Bewegung, der Kontrast/Nicht-Kontrast des Tuns/Nicht-Tuns
der Anderen.
Ich erinnere mich an ein Liegen, auf dem Boden, auf diesem
Bühnenraum (einem in der Imagination grenzenlosen Raum – grenzenlos,
wie jedes weiße Blatt Papier); ich erinnere mich an ein Sich-zur-Seite-Drehen,
ein Kriechen auf dem Bauch, Bewegungen von drei Spielern, auf einander
zu und an einander vorbei und über einander weg: wie Läufe
einer Melodie, die parallel oder kontrastiv sind, sich begleitend
oder kontrapunktisch, wie im Film Visuelles und Akustisches auf einander
bezogen sein kann.
Ich erinnere mich an die Musikalität der Struktur:
wie in der Stille der Bewegungslosigkeit unendlich leises Rutschgeräusch
erscheint, um einem Klatschen der Hände Platz zu machen, während
eben noch der Rücken hohl wird, abhebt, der Körper zurückfällt.
Oder jetzt die Arme sich heben, um wieder auf dem Boden aufzuschlagen.
Ich erinnere mich, viel später, an den schönen,
schweren, aber doch „stumpfen“ Klang von faustgroßen Steinen, mit
denen auf den Holzboden der Bühne geklopft wird.
Ich sehe vor meinem sich erinnernden inneren Auge noch
einmal die Bewegungen des Klopfens der Klopfenden und ich weiß, daß
gleichzeitig jemand mit langen Wollfadengeflechten die Luft durchzog, sie
„peitschte“ – sanft, und kaum hörbar. Und doch unbewusst als Geräusch
wahrgenommen. So wie jene einsetzende Stille, wenn das Wort sich nur als
zur Rundung geöffneter Mund artikuliert, ohne wirklich noch laut zu
werden. Lautstärke „Null“ als Grenzwert.
Ich denke jetzt zurück an das Fallenlassen von weicher,
fast flockiger Erde.
Ich denke an preußischen Stechschritt und its
cracking sound, das Harte des Auftritts, auch metaphorisch, nicht nur
akustisch.
Dies, und die Frau, ihr Körper angeschmiegt an den
umarmenden eines Mannes – androgyne Einheit, Plastizität sanfter
Linien und Formen, die zur atmenden, lebenden momentanen Skulptur gerinnen
– waren wiederum „Kontrapunkte“; letzteres nicht ohne den Dritten,
sein Abseitsstehen, Abseitssitzen, sein Fallen-lassen der Erde oder des
erdigen Sands.
Unmittelbar nach der performance, dem Theater,
der Pantomime, der nicht ganz stillen „stillen Musik“ (silent music)
im Raum der Körper, ihrer Bewegungen und Klänge, der Metamorphose
der Bewegungen und Klänge, war ich ungeduldig genug, zu sagen, eigentlich
seien diese letzten Sequenzen des Ganzen narrativer, psychologisierender,
weniger
absolut als Form, Ablauf, und objektivierte (rezipierbare und
in uns reproduzierbare) Emotion. Aber ich weiß nicht – vielleicht
bin ich vorschnell gewesen. Auch diese Elemente sind in keine Geschichte
integriert, die sich (nach-)erzählen ließe. Die „Naturgeschichte“
der Körpersprache ist eine Art Archäologie, die in der Simultaneität
der „Ausgrabungsstätten“ und ihrer Verknüpfung/Korrelierung mit
formalen, nichtnarrativen Mitteln beschlossen ist. Und jede „Ausgrabungsstätte“
ist der Ort eines Ereignisses (event); das Ereignis aber fällt
in eins mit seinem „Ausgraben“/“Ausgegraben werden“ – dem Isolieren, dem
Sichtbar-Machen.
Es ist Produktion – von Alltagsgeräuschen,
Alltagsbewegungen: ihrer Schönheit, sobald ihre Wahrnehmung ent-automatisiert
ist. Sobald sie lang angehalten, beschleunigt, konfrontiert
werden
mit ihrem „Anderen“. Überhaupt mit Anderen (Menschen und Dingen),
ihren tempi und Verlaufsformen. Und so wahrgenommen werden in einer
Klarheit und Absolutheit, die die reiner Farben und Formen ist (in
einem Kontext des Lebens, der Bewegung und des Anhaltens). Derer sich Verstand
und Gefühl, damit konfrontiert, vergewissern; in Schwingungen versetzt
im selben Moment, da sie ihnen begegnen.
Dieser Text, in der Nacht der Uraufführung
verfaßt und am frühen Vormittag des 25. März 1986 vom Verfasser
den „Aachener Nachrichten“ in deren am Stadtrand gelegenen, ohne Auto nur
auf zeitraubende Weise erreichbaren Redaktionsräumen angeboten, wurde
nicht veröffentlicht.
Die "Aachener Nachrichten" leiteten die Rezension
aber offensichtlich an die Neue Galerie oder das Aachener Theater weiter.
Dieter Schnebel, dem der Text dann übersandt wurde, schrieb, auch
den „Stil“ des Verfassers lobend, sehr freundlich zurück, wobei er
- wohl aus Höflichkeit - betonte, er habe "viel" daraus „gelernt“.
Ein späterer Kommentar AWs merkt an:
Ich habe mich inzwischen gefragt, ob der Text
nicht zu ‚inhaltsleer’, zu ‚formalistisch’ ist, insofern er z.B. Gefühle
nicht benennt, die ausgelöst werden ( – allerdings: sie können
in jedem Zuschauer/Zuhörer andere sein, zumindest anders von ihm benannt
werden? – ) und insofern nicht versucht wurde, von Bedeutungen zu sprechen,
die umschlossen sind in dem, was an „Elementen“ (?) einer Körpersprache
in dem Werk, seinen Abläufen und STOPS, sichtbar/hörbar wurde.
Tatsächlich habe ich versucht, das „Funktionieren“,
die „Produktionsgesetze“ des Werks – soweit ich es als interessierter Laie
konnte – zu verstehen und auszusprechen, in der Absicht, das, was dabei
in Zuschauern/Zuhörern (the audience) an Gefühlen und Bedeutungen,
die das Werk in ihnen anklingen läßt, assoziiert würde,
möglichst nicht zu präjudizieren. Sondern hier jene Freiheit
„walten“ zu lassen, die ich auch an dem Werk als so erfrischend wahrnehme.
Es kann nicht darum gehen, eine Interpretation zu oktroyieren, wenn das
Werk uns eine solche Freiheit lässt; sie, als Existenzmöglichkeit
(utopisch), erfahrbar macht.
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